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Ukrainischer Autor berichtet Andrej Kurkow: «Ich weine nicht, ich werde immer wütender»

Zwischen Bomben und Artilleriebeschuss suchen die Menschen Schutz im Kartoffelkeller. Ein Protokoll aus dem Kriegsgebiet des ukrainischen Schrifstellers Andrej Kurkow.

In letzter Zeit sind unsere Nächte sehr kurz geworden. Meistens heult gegen zwei Uhr nachts die erste Sirene – eine Warnung vor Artilleriebeschuss oder Bomben. Wir bleiben zu Hause.

Meine Frau und ich liegen einfach wach und lesen die Nachrichten auf dem Handy. Schlafen wieder ein. Wachen wieder auf und lesen die Nachrichten. Um sechs Uhr morgens heult meistens die letzte Sirene. Da stehen wir dann auf, und ich versuche meine Freunde zu erreichen.

Andrej Kurkow

Ukrainischer Schriftsteller

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Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen, war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Seine Bücher beschreiben oft das ukrainische Zusammenleben und erscheinen auf Deutsch im Diogenes-Verlag. Derzeit hält sich Andrej Kurkow in der Westukraine auf.

Eine Kollegin und gute Bekannte von mir ist in Melitopol, das von der russischen Armee okkupiert ist. Sie sitzt in ihrer Wohnung und geht nicht hinaus. Ich weiss nicht, wie ich ihr helfen kann. Gelegentlich hat sie sich auf Facebook gemeldet, aber jetzt habe ich schon ein paar Tage keinen Kontakt mehr zu ihr. Auch ein paar Freunde in Kiew heben nicht mehr ab. Ich weiss nicht, wo sie sind und wie es ihnen geht.

Wohngebäude bei Nacht.
Legende: In den Städten der Ukraine bleiben nachts die Lichter zumeist dunkel. Somit lassen sich bei einem Luftangriff Ziele schwerer auffinden. AP Photo/Efrem Lukatsky

Flucht mit Hindernissen

Wir haben Kiew am dritten Tag des Kriegs verlassen. Die Reise dauerte lange, mehr als einen Tag bis Lwiw. Tausende Autos standen in endlosen Staus. Aber wir sind angekommen.

Ein Freund von uns hat es am zehnten Tag des Kriegs nicht geschafft, in den Zug nach Lwiw einzusteigen. Er wollte seine 96-jährige gelähmte Mutter aus Kiew herausbringen. Er ist mit ihr zum Bahnhof gefahren, hat den richtigen Waggon gefunden, aber trotz Fahrkarte liess man sie nicht einsteigen.

Zwei Frauen winken Menschen in einem Zug.
Legende: Die Flucht mit dem Zug nach Europa ist für viele Ukrainer und Ukrainerinnen die einzige Möglichkeit dem Grauen des Krieges zu entkommen. IMAGO / ZUMA Wire

Die Zugbegleiter sagten, die Fahrkarten seien nicht mehr ausschlaggebend: Heute dürften nur Mütter mit kleinen Kindern fahren. Es gibt Züge von Kiew in die Westukraine. Die Menschen steigen ohne Fahrscheine ein. Wer es in den Waggon schafft, gilt als Passagier. In jedem Waggon fahren sieben- bis achtmal mehr Menschen mit, als es Plätze gibt.

Die Geschichte wiederholt sich

Im Februar 1919, als die Bolschewiken Kiew stürmten, ist schon einmal Ähnliches passiert. Damals beschossen sie das Zentrum von Kiew und töteten alle, die ihnen begegneten. Jetzt wiederholt sich die Geschichte. Putins Truppen haben Kiew fast gänzlich umzingelt, schaffen es aber nicht einzudringen.

Die Stadt setzt sich zornig zur Wehr. Die Zivilbevölkerung versteckt sich entweder in ihren Wohnungen, ergreift die nächstbeste Gelegenheit wegzukommen oder bereitet sich auf die Verteidigung der Stadt vor.

Informationen, die früher fremd und unnötig erschienen, sind jetzt wichtig und sogar lebensnotwendig.

Ich kenne mich jetzt aus mit dem Krieg. Ich weiss jetzt, dass eine Armee, die angreift, zehnmal mehr Soldaten verliert als eine Armee, die sich verteidigt. Ich weiss jetzt, wie man Molotow-Cocktails bastelt – man fügt neuerdings Schaumstoffgranulat bei, das beim Zünden am Panzer oder am Schützenfahrzeug kleben bleibt und länger brennt.

Ich kann jetzt die Geräusche von Explosionen und Artilleriebeschuss unterscheiden. Ich wollte das alles nicht wissen. Aber jetzt werden Informationen, die früher fremd und unnötig erschienen, wichtig und sogar lebensnotwendig.

Geheime Fluchtrouten ermöglichen das Überleben

Ich habe am Telefon die Ausreise meines älteren Bruders Mischa und seiner Familie aus Kiew angeleitet. Sie fuhren in einem alten Mercedes mit Verwandten seiner Frau, einer Katze und einem Hamster.

Die einzige Route, über die man noch relativ sicher aus Kiew hinausgelangt, führt über den Südwesten der Stadt. Aber das GPS zeigt sie nicht an. Das GPS erkennt Staus und Strassenbauarbeiten, aber nicht russische Panzer und Kanonen.

Panzer liefern sich Kämpfe auf der Strasse im Wohngebiet.
Legende: Eine russische Panzerkolonne nahe Brovary, eine Stadt im Nordosten Kiews. Die Luftaufnahme wurde am 10. März veröffentlicht. IMAGO / Cover-Images

Also navigiert man wieder wie früher. Mein Bruder musste zuerst nach Obuchiw fahren, dann weiter in die nächste Kleinstadt, dann auf eine unscheinbare Strasse namens Kagarlyzki-Weg abbiegen und so von Dorf zu Dorf bis zur Odessa-Autobahn. Mehr kann ich nicht verraten. Das ist derzeit der einzige Fluchtweg aus Kiew. 

Mein Bruder ist mit seiner Frau und ihren Verwandten bereits angekommen, in einem verlassenen Dorf irgendwo zwischen Feldern, in einem alten Häuschen ohne Wasser und Toilette. Das ist alles draussen. Es gibt keinen ordentlichen Handyempfang und kein Internet. Auch kein Fernsehen und kein Radio. Am Telefon fragt er mich, was passiert. Und ich erzähle es ihm jeden Tag.

Tagelange Staus an der Grenze

Andere Freunde von mir sind noch unterwegs. Mittlerweile erschweren nicht nur Staus jede Flucht, sondern auch Checkpoints, an denen das ukrainische Militär die Papiere kontrolliert und fragt: Haben Sie Waffen?

Wer es nach Europa geschafft hat, ist fast am Ziel. Dort ist man absolut sicher.

Auch in der Ostukraine gibt es solche Checkpoints, aber dort stehen russische Soldaten, die ebenfalls die Papiere kontrollieren und die Autos durchsuchen. Millionen von Ukrainern sind derzeit auf der Flucht. Auch wenn sie vielleicht ein, zwei Wochen irgendwo Halt machen. Wer es nach Europa geschafft hat, ist fast am Ziel. Dort ist man absolut sicher.

Wir bleiben noch in der Ukraine. Von da, wo wir jetzt wohnen, sind es bis zur Grenze vierzig Minuten. Wenn es keinen Stau gibt. Aber es gibt Stau, die Autos stehen tagelang an den Grenzübergängen Schlange.

Ich bin nicht sicher, ob ich meinen Humor diesmal wiederfinden werde.

Kann das ganze Land ins Ausland flüchten? Eine furchtbare Frage. Ich glaube nicht. Die meisten, die gehen, sind Stadtbewohner. Die Dorfbewohner bleiben. Wenn sie Explosionen hören, steigen sie in ihre Kartoffelkeller hinunter oder legen sich in ihren Stuben auf den Holzboden und halten sich die Ohren zu wie Nina, unsere Nachbarin in der Oblast Schytomyr.

«Wenn ich das Telefon nicht abnehme», sagte sie gestern zu mir, «dann weine ich gerade. Wenn ich weine, kann ich nicht reden!»

Ich weine nicht, aber bei Nachrichten aus Kiew, Charkiw, Mariupol sind mir schon oft Tränen in die Augen gestiegen. Ich weine nicht, ich werde immer wütender. Ich habe meinen Humor verloren, wie vor acht Jahren während des Maidans. Damals hab ich ihn irgendwann wiedergefunden, aber ob das auch diesmal passieren wird – da bin ich mir nicht so sicher.

Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer.

SRF 1, Echo der Zeit, 15.03.2022,

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