Die Ukraine, ein riesiges Land zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, wurde immer wieder zerstückelt und unterjocht. Besonders grausam war das 20. Jahrhundert. In den 1930er Jahren verhungerten zwischen drei und sieben Millionen Menschen im Holodomor, einer von Stalin inszenierten Hungersnot.
Wenige Jahre später wurde das Land zu einem der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs. Hier kämpften alle gegen alle: Wehrmacht, Waffen-SS, Rote Armee, ukrainische Nationalisten, sowjetische und polnische Partisanen. Das Resultat: Millionen toter Zivilisten, die Opfer des Holocaust nicht mitgerechnet. Dann folgten fast fünfzig Jahre sowjetischer Herrschaft.
Vom jahrhundertelang vergifteten Erbe erzählt die ukrainische Literatur mit hohem künstlerischem Anspruch und ohne Scheuklappen. Hier eine Auswahl von Romanen, die es zu lesen lohnt:
Andrej Kurkow: «Graue Bienen»
Die Handlung: Im Donbass herrscht seit 2014 Krieg. Er war von Russland geschürt und dient heute als Vorwand für den Angriff auf das ganze Land. Anhand eines Bienenzüchters schildert Andrej Kurkow eindringlich, wie der separatistische Konflikt in der Ost-Ukraine die Zivilgesellschaft zersetzt.
Der Stil: Leise, sanft und lyrisch.
Andrej Kurkow: «Graue Bienen». Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Diogenes, 2019.
Tanja Maljartschuk: «Blauwal der Erinnerung»
Die Handlung: Eine junge Frau lebt verloren im Exil. Sie sucht Halt, indem sie die Biografie des 1931 verstorbenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj recherchiert. Tanja Maljartschuk verbindet das Thema Entwurzelung mit dem langen ukrainischen Unabhängigkeitskampf.
Der Stil: Humorvoll, melancholisch und klug.
Tanja Maljartschuk: «Blauwal der Erinnerung». Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Kiepenheuer & Witsch, 2019.
Katja Petrowskaja: «Vielleicht Esther»
Der Inhalt: Von der Urgrossmutter einer weitverzweigten Familie weiss man noch nicht einmal den Namen. Bekannt ist nur, dass sie 1941 in Kiew von den Nazis erschossen wurde. Katja Petrowskaja erzählt mit ihrer Familiengeschichte vom Holocaust in der Ukraine.
Der Stil: Poetisch, leidenschaftlich und zärtlich.
Katja Petrowskaja: «Vielleicht Esther» . Suhrkamp, 2014.
Oksana Sabuschko: «Museum der vergessenen Geheimnisse»
Der Inhalt: Eine Familiensaga über drei Generationen spiegelt die Ukraine in den Jahren von 1940 bis 2004. Oksana Sabuschko erzählt von der schwierigen und verworrenen Geschichte des Landes und verknüpft aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse mit der unbewältigten Vergangenheit.
Der Stil: Frech, grell und üppig.
Oksana Sabuschko: «Museum der vergessenen Geheimnisse». Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil. Droschl, 2010.
Serhij Zhadan: «Internat»
Der Inhalt: Ein Lehrer der ukrainischen Sprachen will seinen Neffen aus dem Internat im Donbass holen. Serhij Zhadan schildert eine Höllenreise ins Herz eines Kriegs, aus dem sich niemand heraushalten kann.
Der Stil: Düster, verknappt und rasant.
Serhij Zhadan: «Internat». Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp, 2018.