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Gesellschaft & Religion Verdingkinder: Der Blick ins Gesicht schmerzt

Die Porträts lassen es erahnen: Diese Menschen tragen ein schweres Schicksal mit sich. Sie alle sind als Verdingkinder aufgewachsen. Eine Ausstellung in Bern zeigt Fotos von 25 Betroffenen. Bilder und Geschichten gehen durch Mark und Bein.

«Ich bin erschüttert über die Geschichten, die ich von den Anderen höre.» Theresia Rohr ist heute 70. 1948, als sie zwei Jahre alt war, starb ihre Mutter im Kindbett. Danach wurde sie verdingt, so wie ihre sieben Geschwister.

Ein Porträt von Theresia Rohr.
Legende: Theresia Rohr wurde als Kind verdingt, nachdem ihre Mutter starb. Keystone

Junge Leidensgeschichte

«Ich habe lange eine Therapie gemacht, aber ich merke, das sitzt in den Knochen. Es beginnt mich von innen her zu frieren», sagt Theresia Rohr bei einem Rundgang durch die Ausstellung im Polit-Forum Käfigturm in Bern.

Wie viele der Porträtierten ist sie zur Vernissage gekommen. Sie steht vor den Porträts zweier Männer – es sind zwei Brüder. Die beiden sind heute Mitte vierzig. Das heisst: Es ist noch gar nicht so lange her, dass ihre Leidensgeschichte begann.

Ein Kind mit grauen Haaren

«Ein junger Mann, der so alt ist wie mein Sohn. Dass er auch verdingt wurde, das glaube ich fast nicht», so Theresia Rohr.

Die beiden Brüder heissen Christian und Benjamin Tschannen. Bei Benjamin fällt sein Haar auf, es ist fast vollständig ergraut. In der Bildunterschrift steht ein erschreckender Hinweis: Benjamin Tschannens Haar ergraute, als er gerade einmal elf oder zwölf Jahre alt war.

Ein Porträt von Benjamin Tschannen.
Legende: Benjamin Tschannens Haar ergraute als er noch ein Kind war. Keystone

Der Bruder Christian Tschannen erinnert sich: «Ich war eigentlich ein Pflegekind, mit meinem Bruder zusammen, kein Verdingkind. Aber uns haben sie im Oberemmental bei dieser Bauernfamilien erklärt, dass man zu Kindern wie uns früher Verdingkinder gesagt hat – aber man das heute nicht mehr sagen dürfe, dass das verboten sei.»

Neuer Blick auf Vergangenes

Viel wurde über das Thema Verdingwesen in den letzten Jahren gesprochen. Endlich wird es als das benannt, was es eigentlich war: eine Form von staatlich organisierter Kindersklaverei.

Das Verdingwesen wurde geschichtswissenschaftlich gründlich aufgearbeitet, es wurden Bücher geschrieben und Filme gedreht.

Die Ausstellung eröffnet nochmals einen neuen Blick auf die Thematik.

Ausstellungshinweis

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Keystone und das Polit-Forum Käfigturm zeigen vom 9. November 2016 bis am 17. März 2017 in Bern eine Fotoausstellung über ehemalige Verding- und Pflegekinder.

Die Gesichter lassen es erahnen

Die Porträts schlagen eine Brücke aus diesem dunklen Stück Vergangenheit in die Gegenwart. Diese Menschen sind noch da. Sie tragen ihre oft tragischen Geschichten bis heute mit sich. Blickt man in ihre Gesichter, wird man sich dessen bewusst.

«Man kann erahnen, dass etwas passiert ist», sagt der Fotograf Peter Klaunzer, der die Porträts geschaffen hat. «Man weiss nicht was, aber man sieht, mit dieser Person ist etwas passiert, was nicht alltäglich ist. Mich hat interessiert, was da dahinter ist, was diesen Leuten widerfahren ist.»

Verbitterung und Stolz

Die 25 Porträtierten haben dem Fotografen ihr Vertrauen geschenkt, haben ihn in ihr Leben gelassen und ihre Geschichten erzählt, die man im Buch zur Ausstellung nachlesen kann. Das Vertrauen wurde nicht enttäuscht.

Theresia Rohr ist fasziniert von den Porträts: «In gewissen Gesichtern sehe ich eine Verbitterung, teils sehe ich einen Stolz. Peter Klaunzer hat so gute Porträts geschaffen, es ist nichts verfälscht. Er zeigt alles in den Gesichtern.»

Dann holt Theresia Rohr nochmals tief Luft und fasst im Kern zusammen, was die Fotos in dieser Ausstellung letztlich leisten. Besser kann man es wohl nicht sagen: «Man gibt den Menschen eine Würde zurück, die wir nie hatten.»

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