In gemächlichen Kurven gleitet der Papierflieger von der Kuppel auf den kühlen Steinboden der Einsiedler Klosterkirche. Das Flugobjekt trägt eine Botschaft. Mit geschwungener Schrift kann man darauf lesen «Religion ist der Wille zum Winterschlaf. Nietzsche». Ein gottloser Satz mitten in den sonntäglichen Gottesdienst hinein. Der Urheber: Thomas Hürlimann.
Der Zuger gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern unseres Landes. Immer wieder äussert er sich kritisch zum Zeitgeschehen und – zum Verschwinden religiöser Symbole. Er, der als 15-Jähriger in der Klosterschule einen Atheistenclub gründete, beklagt heute, dass der Kirche mit dem Abschaffen der lateinischen Messe «das Mysterium» abhandenkam.
Kutten und Miniröcke
Der Papierflieger mit atheistischer Parole war nur der Anfang einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Glauben seiner Kindheit. In seinem neuesten Buch «Abendspaziergang mit dem Kater» – eine Blütenlese aus 40 Jahren literarischen Schaffens – zeigt sich auch die eigene religiöse Entwicklung.
Als Zögling der Klosterschule lebte er noch nach der Ordnung des 19. Jahrhunderts in Kutten. «Um uns herum wandelte sich die Welt. Es gab plötzlich Miniröcke und die Beatles.» Eine Insel, von Klostermauern abgeschlossen. Das habe zu einer Explosion geführt: «Ich bin damals voll dem Zeitgeist erlegen», erzählt Hürlimann rückblickend.
Vom Atheismus zum Ute-ismus
Er habe Marx, Freud und all den anderen atheistischen Autoren geglaubt, dabei aber unterschätzt, dass wir Menschen sowas wie «metaphysische Antennen» haben. Ausgerechnet die Liebe sollte ihm zu dieser Einsicht verhelfen. Es war Ute aus Berlin, die ihn begreifen machte, dass er die Religion doch nicht ganz ablegen könne.
«Zum letzten Mal befand ich mich in einem heiligen Bezirk. Er war so groß wie die Matratze meiner Kreuzberger Wohnung», so Hürlimann in seinem neuesten Buch. «Ich wollte weiterhin eine Frau anbeten, sie anhimmeln.» Der Glaube an das Übersinnliche sei Voraussetzung für die Liebe und diese Form der Metaphysik wollte sich der junge Student nicht nehmen lassen.
Läuterung durch Krankheit
Mit zunehmendem Alter und schweren Krankheiten, die den Schriftsteller einholten, bekam er einen vertieften, neuen Bezug zum Glauben. Nicht mehr über Eros, sondern diesmal über das Leiden, zeigte sich ihm in der Nacht vor einer matchentscheidenden Operation, dass es nach der Schwelle des Todes «etwas anderes geben muss».
Kränkelnde Religion
Hürlimann beschäftigt stark, was er in den 60er Jahren am eigenen Leib erfährt: Eine Religion, die er in seiner Kindheit als stark und potent erlebt, bricht über Nacht in sich zusammen. Was im Atheistenclub als jugendliche Provokation begann, wandte sich in bitteren Ernst.
«Ich sehe, dass eine Gesellschaft, die sich auf ihre jüdisch-christlichen und griechischen Wurzeln berufen müsste, nicht mehr daran interessiert ist.» Damit sterbe diese Welt weg und mit ihr unsere Herkunft und wohl auch Zukunft, so Hürlimanns reichlich kulturpessimistische Sicht.
Trotzdem Ja zum Glauben sagen
Wehmütig schreibt er vom Wandel der Sprache, von Worten wie «Satan», «Wunder» oder «Heilige» denen sich die Kirche nicht mehr bediene und die stattdessen «in die Literatur emigrieren».
Was der Schriftsteller hier auch andeutet, sind Veränderungen, die durch das zweite Vatikanische Konzil (1962-65) Einzug hielten. Etwa die Zurückdrängung der lateinischen Messe, bei der Priester mit dem Rücken zum Kirchenvolk stand, Latein sprach und die Gläubigen kaum involviert waren.
Was für viele als Errungenschaft gilt, bemängelt Hürlimann als Verlust des Mysteriums, deren Hüterin die Kirche einst war. Inzwischen sei diese zu einer politischen und moralischen Anstalt geworden.
Und dennoch: Aus der römisch-katholischen Kirche ist Hürlimann nicht ausgetreten, die Kirche habe ihm auch viel gegeben. «Der Katholizismus müsste auch aus mir austreten, nicht nur ich aus ihm», so Hürlimann.