Die Werbung von Reisebüros lockte im 19. Jahrhundert tausende Tessiner in die Fremde. In einer Zeit der Not versuchten viele, ihr Glück fernab der Heimat zu finden. Zeitzeuge Arthur Nicola kennt die falschen Heilsversprechen dieser Reiseagenturen aus der eigenen Familiengeschichte.
Der 75-jährige Computer-Ingenieur kehrt nur alle zehn Jahre zurück nach Gordevio im Maggiatal – ins Dorf seiner Vorfahren. Im Sommer dieses Jahres war es wieder so weit. Dass er nicht im Tessin, sondern in Kalifornien aufgewachsen ist, verdanke er seinen beiden Urgrossvätern, sagt Arthur Nicola.
«Meine Urgrossväter suchten erfolglos Gold in Australien. Der eine kehrte zurück, der andere nicht. Für die sechsmonatige Schiffsreise machte dieser bei der Gemeinde Schulden im Wert von 900 Franken. Als er nicht zurückkam, nahm die Gemeinde sein Grundstück. Meine Urgrossmutter und mein damals sechs Monate alter Grossvater mussten ums Überleben kämpfen.»
Zurückgelassen – und zur Armut verurteilt
Diese Geschichte sei absolut kein Einzelfall, ordnet Historiker Luigi Lorenzetti von der Universität der italienischen Schweiz, USI, ein. Viele Männer konnten oder wollten nicht aus der Fremde zurückkehren.
Die zurückgelassenen Frauen konnten niemand anderen ehelichen, denn auf dem Papier waren sie ja immer noch verheiratet. Für sie wurde es sehr schwierig, da sie in der Regel zehn Kinder zu versorgen hatten, so Lorenzetti.
Weil aus dem Tessiner Maggiatal so viele Männer ausgewandert und nicht mehr zurück nach Hause gekommen sind, resultierte daraus ein europaweit einzigartiges Geschlechter-Missverhältnis. Und um 1900 waren die Hälfte der Frauen im Maggiatal Singles, weiss Lorenzetti.
Im 19. Jahrhundert, vor allem zwischen 1850 und 1900, zwang der Hunger die Menschen auszuwandern. In dieser Zeit führten gerade im Maggiatal grosse Überschwemmungen zu Ernteausfällen und Krankheiten.
Zudem errichtete Österreich im Kontext des Krieges mit Sardinien ein Embargo gegen den Kanton Tessin, weil dieser viele sardische Flüchtlinge aufnahm. Die Folge: Eine grosse wirtschaftliche Krise, weil das Maggiatal fast sein ganzes Import-Export-Geschäft mit der damals zu Österreich gehörenden Lombardei aufgeben musste.
Tessiner gehen nach Amerika – und melken Kühe
Arthur Nicola lebt heute selbst in Kalifornien. Denn sein Grossvater wiederum versuchte sein Glück in Amerika. Wie die allermeisten Tessiner arbeitete er auf einer Farm anderer Tessiner, die bereits Land und Hof erwerben konnten.
«Alle Tessiner verdienten ihre ersten Dollar mit Kuh melken. Mein Grossvater kehrte aber ins Maggiatal zurück, heiratete meine Grossmutter und sie bekamen zwölf Kinder. Mein Vater war der jüngste. Sieben seiner Geschwister waren schon nach Amerika ausgewandert. Alle sprachen sie immer von Amerika und wie man da Geld machen kann.»
Wenn Arthur Nicola, der breitschultrige Mann mit dem offenen Gesicht, auf die Geschichte seiner Eltern zu sprechen kommt, wird er sehr emotional. Sein Vater ist nach ein paar Jahren in Amerika ins Maggiatal zurückgekehrt und hat seine Mutter geheiratet. Sie hat ihre Ziegen verkauft und gemeinsam sind sie wieder weg, nach Kalifornien, gezogen.
Arthur Nicola wuchs dort in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater erwarb ein Stückchen Land und zwei Kühe. Sie mähten das Gras von Hand, wie im Maggiatal, erzählt Arthur Nicola: «Meine ersten fünf Lebensjahre sprachen wir zu Hause nur Dialekt. Meine Mama sagte: ‹Denke daran, du bist in Kalifornien geboren, aber im Maggiatal aufgewachsen›. Sie hatte schon recht.»
Das Tessin-Heimweh der Mutter
Beim Gedanken an seine Mutter rollen dem 75-Jährigen die Tränen. «Sie musste so viel weinen, weil sie so starkes Heimweh an das Maggiatal hatte», erzählt er und wischt sich die Tränen aus dem freundlichen Gesicht.
Arthur Nicola selbst ist nicht wieder ins Maggiatal zurückgezogen. Er wurde Computer-Ingenieur und lebt mit seiner Familie im Monterey Valley, wo viele Nachfahren von Tessiner Ausgewanderten leben.
Ich möchte die Sprache meiner Kindheit bewahren.
Zusammen machen sie Tessiner Musik und singen anlässlich des 1. Augusts Lieder aus seiner Heimat. Mithilfe der Musik könne er die Sprache und damit die Erinnerung an seine Wurzeln wenigstens noch ein bisschen pflegen, sagt der aufgestellte Mann wehmütig.
«Ich möchte die Sprache meiner Kindheit bewahren. Aber es ist schwierig. Denn es gibt kaum noch jemanden, der diesen alten Dialekt aus Gordevio spricht. Es ist ein spezieller Dialekt. Der Klang dieser Sprache berührt mich sehr.»
Mit seinen 75 Jahren ist Arthur Nicola einer der wenigen direkten Nachkommen von Tessiner Amerika-Ausgewanderten des 19. Jahrhunderts, der noch lebt. Seine Geschichte ist beispielhaft.