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Kleine Literaturgeschichte der Liebe
Aus Kulturplatz vom 22.05.2019.
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Von Amor bis Houellebecq Die lustvolle Geschichte der Liebe

Was sie sein darf, definiert jede Epoche anders: eine kleine Geschichte der Liebe – mit grossen Liebesgeschichten.

Die Liebe schreibt die schönsten Geschichten, aber auch die traurigsten. Diese Ambivalenz erstaunt nicht, denn der Gott der Liebe trägt eine Waffe: Pfeil und Bogen.

Ob er nun Eros heisst wie bei den Griechen oder Amor wie bei den Römern: Trifft er uns, werden wir zu Auserkorenen. Doch Einstiche bereiten Schmerzen.

Verbotene Liebe

Exemplarisch dafür steht eine Erzählung, der sich im Mittelalter gleich mehrere Dichter annahmen: «Tristan und Isolde». Gottfried von Strassburg siedelt die Titelfiguren in verfeindeten Königreichen an.

Das hindert sie nicht daran, füreinander zu entflammen. Allerdings darf ein Ritter nach damaligem Verständnis keine Erfüllung in der Liebe finden. Sie muss scheitern – mit seinem frühen Tod.

Eine Filmszene aus Romeo und Julia.
Legende: Fragt man nach einer klassischen Liebesgeschichte, wird oft dieses Paar genannt: Romeo und Julia, hier gespielt von Leonardo DiCaprio und Claire Danes in der Verfilmung von Baz Luhrmann, 1996. Getty Images/20th Century Fox

Tödlich endet auch die Liebesgeschichte par excellence: Shakespeares «Romeo und Julia» von 1597.

Wieder gehören die beiden titelgebenden Figuren zwei sich hassenden Clans an. Und wieder müssen sie an ihrer verbotenen Liebe zugrunde gehen.

Lust und Leid

Der Topos der unerfüllten Liebe reizt Philipp Theisohn. Der Germanistik-Professor der Universität Zürich hat zur Literatur des Begehrens geforscht: «Liebe ist da dramatisch und theaterfähig, wo sie dem Scheitern ausgesetzt ist.»

Lust und Leid liegen nahe beieinander: ein Bild, das sich mit unseren Alltagserfahrungen deckt.

Selbstermächtigung der Frau

Während Jahrhunderten predigen Sittenwächter, körperliche Liebe dürfe nur kanalisiert praktiziert werden: in der Ehe. Und auch da nicht der erotischen Erfüllung wegen, sondern zur Fortpflanzung.

Unter dieser Prüderie leiden vor allem Frauen. Lange sind sie Gefangene eines patriarchalen Korsetts. Dann aber kommt es zur weiblichen Selbstermächtigung in der Literatur.

Wiederholter Ehebruch

Gustave Flaubert lässt seine «Madame Bovary» 1856 gleich mehrfach aus der (spiess)bürgerlichen Gesellschaft ausbrechen und Ehebruch begehen.

Eine Frau mit einem altmodischen Hut steht im Schnee.
Legende: Der Roman «Effi Briest» wurde mehrfach verfilmt. Eine berühmte Version ist die von 1974 unter der Regie von Rainer Werner Fassbinder mit Hanna Schygulla in der Titelrolle. imago images/United Archives

Theodor Fontane geht 1896 noch einen Schritt weiter. Im Gegensatz zu Emma Bovary schämt sich seine «Effi Briest» nicht mehr für ihren Liebhaber ausserhalb der Vernunftehe.

Diese Romane «geben der Frau eine Stimme», so Philipp Theisohn. In beiden Fällen bleibt die Selbstermächtigung jedoch nicht unbestraft. Die Titelfiguren sterben jung – zur Strafe für ihr Verhalten, das weiterhin als sündhaft gilt.

Freie Liebe

Erst die «68er» des 20. Jahrhunderts propagieren ein Lustprinzip, das in breiten Kreisen Akzeptanz erfährt. Sie erachten selbstbestimmte Sexualität als Zeichen einer aufgeklärten Gesellschaft. Und ziehen Parallelen zwischen Schlafzimmer und Weltbühne.

Eine Gruppe von Frauen liegen auf einem nackten Mann.
Legende: 1968 wird die Liebe freier – und politisch: Szene aus dem Film «The Touchables» («Zwischen Beat und Bett») aus dem Jahr 1968. imago images/United Archives

«Wenn ich mich im intimsten Teil meines Privatlebens patriarchal aufführe, imperialistisch und kapitalistisch – also auf Besitz schaue –, dann wird das auch im Globalen so sein. Und umgekehrt: Wenn ich bereit bin, Verantwortung gegenüber anderen wahrzunehmen, dann kommen wir auch zu einer anderen Ökonomie und politischen Landschaft», so Theisohn über das Konzept der freien Liebe.

Liebe als Ware

Heutzutage droht eine Übersexualisierung. Der französische Skandalautor Michel Houellebecq etwa beschreibt Erotik als pornografische Ware und lässt Liebesbeziehungen scheitern – wie in seinem jüngsten Roman «Serotonin».

Für schnellen Ersatz nach dem Liebes-Aus sorgen Dating-Plattformen. Tinder & Co. erleichtern der Konsumgesellschaft, Liebe jederzeit zu «beziehen». Mit ihnen braucht es keinen Pfeil mehr, um Treffer zu landen.

Doch dies widerspreche dem Prinzip des Eros, sagt der Literatur-Professor. Liebe entstehe nur, wenn wir mit einem Nein rechnen müssen. Soll sie dagegen stets verfügbar sein, «können wir das gar nicht mehr als Liebe empfinden, sondern bestenfalls als Ware».

Von solchen Überlegungen lässt sich der Mensch nicht aufhalten. Unterdessen schafft er – ganz real – virtuelle Geliebte. In Japan beispielsweise leben immer mehr Menschen in einer Beziehung mit einem virtuellen Assistenten, einem Hologramm. Diese digitalen Mitbewohner geben dank Projektionen körperliche Präsenz vor, sind aber bloss digitale Erscheinungen.

Der Algorithmus hat Amor abgelöst. Ach, du liebe Zeit!

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