Narziss – so heisst der sagenhafte Jüngling, dem die Persönlichkeitsstörung Narzismus ihren Namen zu verdanken hat. Und das kam so: Narziss war ein wunderschöner junger Mann, in der griechischen Mythologie der Spross eines Flussgottes und einer Wassernymphe. Jünglinge himmelten ihn an, Mädchen umschwärmten ihn. Aber Narziss wollte nichts von niemandem wissen. Erfüllt vom trotzigen Stolz auf seine Schönheit wies der Beau der Antike seine Bewunderinnen herzlos zurück.
Wie es in den griechischen Sagen so kommt, rächt sich das. Die Göttin Artemis dachte sich für Narziss etwas besonders Perfides aus. Sie strafte ihn mit unstillbarer Selbstliebe. Als Narziss sich lustwandelnd bei einer Wasserquelle niederliess, verliebte er sich in sein eigenes Spiegelbild. Er verzehrte sich und verschmachtete vor seinem Ebenbild bis zu seinem Tod. Statt seines Leichnams war am Wasser eine Narzisse zu finden.
Modediagnose Narzissmus
Das Wort narzisstisch wird heute inflationär gebraucht. Doch die wenigsten wissen genau, was damit gemeint ist. Vielleicht etwas Ähnliches wie selbstverliebt? Oder ein bisschen egozentrisch? Oder sehr eitel, marken- und modebewusst? Oder alles miteinander?
Bärbel Wardetzki sorgt in ihrem jüngsten Buch über Narzissmus im Berufsleben für Klarheit, setzt jedoch noch einen drauf. Sie sagt: «Narzissten sind doppelgesichtig, janusköpfig.» Das macht die Sache nicht einfacher. Im Gegenteil. Aber es ist gut so.
Zwei Gesichter in einem
Narzissten begeistern. Narzisstinnen verführen. Sie blenden mit Charme und Charisma. In der Regel sind sie ungeheuer redegewandt, humorvoll, selbstsicher und ziehen die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich – anfangs jedenfalls. Das ist das erste Gesicht: die schöne Fassade.
Mit der Zeit aber zeigt sich das zweite Gesicht. Dann kommt oft die Enttäuschung. Der Narzisst entpuppt sich als verletzliches Kind im Erwachsenenkleid, als getriebener, leistungsorientierter Wackelkandidat, als schnell kränkbares Wesen, als Bewunderungsjunkie. Das ist ja gar nicht so schlimm. Nur etwas kompliziert. Schade um die Show.
Ein Kompass durch den Berufsalltag
Wardetzkis neues Buch umfasst drei Teile. Im ersten Teil wird der Begriff Narzissmus geklärt. Im zweiten Teil geht es um den Narzissmus in der Arbeitswelt. Wie hängt Macht mit Narzissmus zusammen? Ist Narzissmus ein Karriereförderer oder -hemmer oder beides? Auf diese Fragen liefert die Psychotherapeutin fundierte Antworten.
Am hilfreichsten, weil sehr alltagsbezogen, ist der dritte Teil. Er handelt vom klugen Umgang mit narzisstischen Kolleginnen, Chefs oder Mitarbeitern. Wardetzki liefert hierzu einen gut bestückten Werkzeugkasten. Zwei wichtige Werkzeuge heissen Selbstfürsorge und Selbstschutz. Ein weiteres ist die gewaltfreie Kommunikation.
Ausserdem zeigt die Expertin, wie das zwiegesichtige Gegenüber ins eigene Boot geholt werden kann und weist hin auf den vielversprechenden Unterschied zwischen konstruktiver Aggression und destruktiver Kränkungswut.
Der Vorteil der konstruktiven Aggression: Sie ist auch zwiegesichtig. Sie enthält immer auch Wohlwollen und Wertschätzung. Darum könnte das Motto heissen: Ich ärgere mich über das Verhalten meines Gegenübers. Aber ich schätze den Menschen. Gut vorstellbar, dass genau das Balsam ist für die Seele des Januskopfes.