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Wer pflegt uns in Zukunft? Diagnose: Mangel an Pflegepersonal

Der Bedarf an Pflegepersonal wächst. Doch die Hälfte der Pflegefachkräfte hängt den Beruf an den Nagel. Warum? Und wie geht es anders? Ein Bestandsaufnahme – mit Visite im Berner Inselspital.

Aline Zehnder desinfiziert ihre Hände mit der Regelmässigkeit eines Taktfahrplanes. Die 26-jährige diplomierte Pflegefachfrau arbeitet seit Januar auf der Nephrologie, der Nierenstation im Berner Inselspital.

Es ist 9 Uhr, Zeit für den «Huddle». «Huddle» bedeutet Haufen, Versammlung und ist der neue Ausdruck für den Tagesrapport. Die ganze Belegschaft inklusive Reinigung kommt im Gang kurz zusammen und bespricht den Tag. Wer macht heute was? Was steht an?

Pflege «on the run»

Danach beginnt die Visite. Aline Zehnder bereitet im Gang die nötigen Unterlagen für die Ärztin vor, die später ihre Runde macht. Sauerstoffsättigung, Blutdruck, Atemfrequenz. Aline Zehnder steht vor ihrem Pflegewagen mit dem Computer drauf. Knapp 1.70 hoch ist das Gefährt. «Hier habe ich die nötigsten Dinge mit dabei. Medikamente, Thermometer, Verbandsmaterial.»

Aline Zehnder steht neben dem Pflegewagen.
Legende: Das Gefährt, ihr grösster Gehilfe: Der Pflegewagen macht die Arbeit einfacher. SRF / Matthias Willi

Das rollende Büro ist Teil des sogenannten «Lean Management», das heute zunehmend den Alltag der Pflege prägt. «Lean» bedeutet schlank, effizient. Die Methoden von Lean Management sind in den 1970er-Jahren beim japanischen Autohersteller Toyota entstanden. Abläufe sollen optimiert und effizienter werden. Der Pflegewagen erspart Wege. «Der Wagen ist sehr praktisch. Ich muss nicht jedes Mal aus dem Zimmer, wenn ich etwas brauche.»

Und so schieben ihn die Pflegenden vor sich hin, ziehen ihn hinter sich her. Manchmal kommt es zu beinah skurrilen Situationen. Wenn drei Leute gleichzeitig mit ihrem rollenden Gefährt einander kreuzen wollen. Es wird manövriert, fast wie beim Autoscooter. Einfach rücksichtsvoll.

Näher bei Patient und Patientin

Der Pflegewagen ermöglicht ortsunabhängiges Arbeiten. In diesem Fall heisst das: auf dem Gang. Besprechungen finden hier statt, auch die Dokumentation. «Alles muss genau festgehalten werden. Das braucht viel Zeit, ist aber sehr wichtig.»

Dinge, die man früher im Stationszimmer erledigte, passieren jetzt mitten im Spitaltrubel. Wie geht das mit der Konzentration? «Das ist manchmal schwierig», sagt Aline Zehnder.

Aline Zehnder trinkt aus einer roten Flasche.
Legende: Auch Aline Zehnders Mini-Erfrischungspause findet auf dem Gang statt. SRF / Matthias Willi

Ein Ziel des Lean Management ist auch, dass die Pflege sichtbarer ist: «Wir sollen präsenter sein, näher beim Patienten. Deswegen erledigen wir vieles auf dem Gang.»

Patientenzentriert heisst das im Fachjargon. Das bedeutet aber auch, dass es für die Pflege weniger Rückzugsmöglichkeiten gibt. «Ich bin deutlich mehr auf den Beinen. Und nur selten im Stationszimmer.»

Aline Zehnder nimmt einen Schluck Wasser aus ihrer Sportflasche, die ebenfalls auf dem Spitalwagen steht. Wie sie da in ihren Nike-Turnschuhen im Gehen aus der Trinkflasche trinkt, sieht sie aus wie eine Sportlerin. On the run, sozusagen.

Bis zu 21 Personen

In der Zwischenzeit ist die Assistenzärztin eingetroffen. «Meine Aufgabe ist es, der Ärztin einen Überblick über die aktuelle Patientensituation zu geben, aber auch Wünsche oder Fragen des Patienten zu klären, die er selber nicht stellen möchte.» Manchmal übersetze sie im Nachhinein auch für den Patienten. Was genau hat der Arzt mit seinem Fachjargon gemeint? «Letztlich bin ich die Vertretung des Patienten, der Patientin.»

Die Pflege ist nah dran an den Patienten und Patientinnen, überwacht sie, hat den Überblick über Diagnose, Krankheitsverlauf und Medikation. Aline Zehnder gibt der Assistenzärztin das Update.

Zum Beispiel über jenen Patienten, der sich am frühen Morgen selbstständig gemacht hat: «Er ist alleine zur Dialyse gegangen, ohne sich abzumelden.» Seine Medikamente habe er noch nicht eingenommen.

Aline Zehnder öffnet eine Tür. Sie schiebt einen Patienten in ein Zimmer.
Legende: Ständige Begleiter: Das Pflegepersonal kennt die Auf und Abs der Patienten – manchmal besser als die Ärzte. SRF / Matthias Willi

Heute dauert die Visite nur gerade zehn Minuten. «Es kann aber auch mal zwei Stunden gehen. Je nachdem, wie viele Patienten auf der Station und wie komplex die Fälle sind», so Zehnder.

An diesem Tag sind nur die Hälfte der Betten belegt. Ein untypisch ruhiger Tag. «Heute bin ich zusammen mit einer Fachangestellten Gesundheit, kurz FaGe, für 4 Patienten zuständig. Im Spätdienst sind es 7 Patienten und in Nacht können es bis zu 21 Patienten und Patientinnen sein.»

Aline Zehnder kümmert sich nun um eine Patientin, die duschen möchte. Danach sorgt sie dafür, dass der Patient, der sich selbstständig zur Dialyse aufgemacht hat, doch noch zu seinen Medis kommt.

Ein Traumberuf, der viel abverlangt

Aline Zehnder mag ihren Beruf: Nach ihrer Lehre als FaGe wollte sie sich beruflich weiterentwickeln und hängte die Zusatzausbildung zur diplomierten Pflegefachfrau an. Vor allem das vertiefte Fachwissen reizte sie: «In einer Uniklinik komme ich mit sehr seltenen Krankheitsbildern in Berührung. Ich bilde mich dadurch ständig weiter.»

Pinke Schuhe auf dem Spitalboden.
Legende: Pflegefachkraft ist ein Beruf, bei dem man nicht stehen bleibt: Deshalb mag Aline Zehnder ihn so sehr. SRF / Matthias Willi

Aber auch die Begegnungen mit den Menschen faszinieren Aline Zehnder: «Zu sehen, wie stark Menschen sein können, die Schicksalsschläge erleben.» Dabei sei es beruhigend zu wissen, dass die Forschung immer weitergehe und man für gewisse Krankheiten doch noch gute Lösungen finde. «Am schönsten ist es, wenn die Leute wieder gesund nach Hause können.»

Die Hälfte der Pflegefachkräfte steigt aus

Seit fünf Jahren arbeitet Aline Zehnder in der Pflege. In einem Beruf, bei dem knapp die Hälfte wieder aussteigt. «Das macht mir Angst. Ich frage mich schon, wie das in Zukunft sein wird. Und ich finde es traurig. Denn es ist ein wunderschöner Beruf, bei dem man viel weiss und vieles bewirken kann.» Dass so viele Leute aussteigen, sei alarmierend.

Ein Desinfektionsmittel hängt an einem Badge.
Legende: Alarmierend? Rund die Hälfte der Pflegefachkräfte hängt Badge und Beruf an den Nagel. SRF / Matthias Willi

Eine der Aussteigerinnen ist Afize Merkli. Sie ist 41 Jahre alt, als der Rücken zu schmerzen beginnt. «Auch mit starken Medikamenten wurde es nicht besser und ich wusste, es ist Zeit aufzuhören.»

Die Schmerzen waren Folgen eines Berufs, der einem vieles abverlangt. Gerade auch körperlich, besonders in der Langzeitpflege, beispielsweise in Altersheimen: «Eine Pflegende hebt in ihrem Alltag durchschnittlich ein bis zehn Patienten mit einem Körpergewicht von hundert Kilo. Hexenschüsse sind bei Pflegenden häufiger als bei Bauarbeitern.»

Afize Merkli bezieht sich auf Zahlen der PK Rück. Eine Rückversicherung, bei der die Pensionskassen ihre eigenen Risiken versichern. Laut Angaben der PK Rück arbeiten die Menschen, die bei der Arbeit ihre Gesundheit am meisten riskieren, nicht mehr auf dem Bau, sondern in der Pflege.

Zu den Rückenschmerzen kamen Schlafprobleme, ausgelöst durch die seelische Belastung: «Wir kümmern uns um ältere Menschen, die manchmal sehr einsam sind, wir sind mit dem Tod konfrontiert. Oder mit Angehörigen, die ihre Eltern verlieren. Abends im Bett geht einem vieles durch den Kopf.»

Die gesundheitlichen Probleme waren der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zweifel kamen Afize Merkli schon früher. Nicht Zweifel am Beruf, sondern an den Arbeitsbedingungen.

Erst Euphorie, dann Ernüchterung

Afize Merkli kommt 2010 aus Bulgarien in die Schweiz. In Bulgarien arbeitet sie als diplomierte Pflegefachfrau auf der Notfallstation. In der Schweiz wechselt sie in die Langzeitpflege und arbeitet in Altersheimen.

Die anfängliche Euphorie über die Stelle im neuen Land weicht bald einer leisen Ernüchterung. In Bulgarien sei sie die rechte Hand der Ärztin oder des Arztes gewesen. «In der Schweiz war die Hierarchie zwischen Pflege und Ärzten viel steiler. Das hat mich sehr überrascht.»

Eine Frau schreibt etwas auf einen Zettel.
Legende: Unterfordert: Von «Brain Waste» spricht man, wenn das Fachwissen von Pflegenden nicht zum Zuge kommt. SRF / Matthias Willi

Und Merkli bedauerte, dass sie bei ihrer Stelle im Altersheim ihr Fachwissen wenig einsetzen konnte: «Ich konnte mich mit meinem Wissen und meinen Fähigkeiten nicht wirklich entfalten. Man ist vor allem mit der Grundpflege, also Körperpflege und Betreuung beschäftigt.»

Das fachliche Wissen gehe so langsam verloren, so Merkli, sie spricht von «Brain Waste.» Auf Deutsch bedeutet das so viel wie Verschwendung von Gehirn, Verstand, Wissen. Es ist der Fachausdruck dafür, wenn Migrantinnen und Migranten ihre mitgebrachten Qualifikationen im Zuwanderungsland nicht nutzen können. «Ich empfand das als Verschwendung. Vor allem wenn qualifiziertes Personal so dringend gesucht ist.»

Unterfordert, überlastet

Afize Merkli fand eine eigene Lösung, damit ihr Wissen nicht verloren geht. «In den Sommerferien in Bulgarien übte ich jeweils mit meinem alten Team auf der Notfallstation Medizinaltechnik.»

Afize Merkli war unterfordert. Und überlastet. Sie schildert einen Alltag, der geprägt war von Gehetze und Unterbrechungen. «Bei uns herrschte Personalmangel. Alle mussten alles machen. Die diplomierten Pflegefachpersonen waren unterfordert, die Fachangestellten Gesundheit überfordert.»

Afize Merkli ist vor zwei Jahren aus dem Beruf ausgestiegen. Sie ist eine von vielen. Für Merkli ist klar: «Der Pflegenotstand droht nicht. Er ist Realität. Ohne Leute aus dem Ausland wären wir verloren.»

Mehr Pflegefachkräfte müssen ausgebildet werden

Annette Grünig von der GDK, der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren, ist Projektleiterin Gesundheitsberufe und kümmert sich um Fragen der Ausbildung und des Personalbedarfs. Von einem «Notstand» möchte sie nicht sprechen.

«Das klingt alarmistisch. Die Versorgung ist grundsätzlich gewährleistet – dank Personal aus dem Ausland.» In Westschweizer Pflegeheimen haben rund die Hälfte der diplomierten Pflegefachkräfte ein ausländisches Diplom. Schweizweit kommt ungefähr 40 Prozent des neu angestellten Pflegepersonals aus dem Ausland.

Laut der GDK braucht es bis ins Jahr 2025 zusätzlich 17'500 diplomierte Pflegefachpersonen. «Das ist aber nur der Zusatzbedarf aufgrund der demografischen Entwicklung.» Die Babyboomer kommen nun langsam ins Alter und die Bevölkerung wächst generell in der Schweiz. «Insgesamt braucht es sogar deutlich mehr als die 17'500. Nicht mitgerechnet sind die frühzeitigen Austritte oder Pensionierungen», so Grünig.

Wichtiger als der Blick in die Zukunft ist der Blick in die Gegenwart: «Zentral ist, wie viel Pflegefachkräfte die Schweiz pro Jahr ausbilden muss, damit der Bedarf gedeckt ist.» Und hier zeigt sich deutlich: Die Schweiz bildet viel zu wenig aus. «Pro Jahr müssten 6000 diplomierte Pflegefachpersonen ihren Abschluss machen. Letztes Jahr waren es aber nur 2831 Abschlüsse. Damit ist der Bedarf nur zu 46,6 Prozent gedeckt.»

Jemand drückt auf einen Desinfektions-Dispenser.
Legende: Wer kümmert sich in Zukunft um kranke Menschen? Um den Bedarf zu decken, müssen mehr Pflegefachkräfte ausgebildet werden. SRF / Matthias Willi

Allerdings sei die Quote im Vergleich zu vor vier Jahren leicht besser geworden. «Da waren es sogar nur 43 Prozent», so Grünig, «aber es bleibt viel zu tun.» Es sei wichtig, dass Massnahmen ergriffen würden, damit die Leute im Beruf bleiben.

«Es geht um Vereinbarkeit und Arbeitsbedingungen. Aber auch um Laufbahnberatung und die Möglichkeit eines Wiedereinstieges in den Beruf.» Solche Wiedereinstiegs-Projekte laufen beispielsweise in der Innerschweiz. «Dort ist der Handlungsdruck besonders hoch, weil es keine Grenzgängerinnen gibt», sagt Grünig.

Freud und Leid

Zurück im Inselspital Bern: Ein ehemaliger Patient von Aline Zehnder ist gerade auf Besuch. Freudestrahlend kommt er auf Aline Zehnder zu, sie umarmen sich. «Es ist schön, ihn so zu sehen. Er schwebte lange zwischen Leben und Tod.»

In der Pflege erlebt man den Zustand der Patienten und Patientinnen hautnah mit, die Freude wenn sie genesen, aber auch Ängste, Trauer, Scham: «Wer plötzlich einen künstlichen Darmausgang oder eine Amputation braucht, macht eine grosse Veränderung im Körperbild durch. In der Pflege erleben wir das mit: Die Frustration des Patienten, wenn er etwas nicht alleine kann oder die Scham, wenn er plötzlich mit dem eigenen Stuhlgang konfrontiert ist.»

Aline Zehnder steht vor dem Arbeitsplan.
Legende: Alles eine Frage der Kapazitäten: Für einen guten Arbeitsplan brauche es vor allem qualifizierte Leute, so Zehnder. SRF / Matthias Willi

Einiges gehe einem nah, sagt Aline Zehnder: «Gewisse Schicksale oder Bilder verfolgen einem.» Gerade darum sei die Work-Life-Balance so wichtig – und die hänge vor allem von etwas ab: «Der Personalschlüssel ist entscheidend. Ein guter Arbeitsplan kann nur geschrieben werden, wenn genügend qualifizierte Leute da sind.» Auf ihrer aktuellen Station sei das gewährleistet – aber sie habe auch schon anderes erlebt.

Ein Anruf aus der Intensivstation: Eine Patientin kann verlegt werden. Aline Zehnder liest sich kurz ins Patientendossier ein, verschafft sich einen Überblick. Anamnese, Diagnose, Vitalwerte.

Dann macht sie sich auf den Weg.

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