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Ankommen in der Schweiz Wie erleben minderjährige Flüchtlinge die Schweiz?

Im Motel Pilatusblick in Kriens wohnen 70 unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA). SRF-Redaktorin Cornelia Kazis hat zwei Flüchtlinge begleitet und ging der Frage nach: Was heisst es in der Schweiz anzukommen?

Zur Person

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Cornelia Kazis ist ursprünglich Lehrerin. Über das Entwickeln von Lehrmitteln ist sie zum Journalismus gekommen. Sie arbeitet seit 36 Jahren als freie Autorin und als Redaktorin bei SRF und hat zahlreiche Preise für Texte und Features gewonnen. Sie lebt in Basel.

SRF: Im Zentrum werden die UMAs begleitet von «Mama Maria» und «Papa Patrick». Gleicht das Zusammenleben tatsächlich einer Familie?

Cornelia Kazis: Das Zentrum in Kriens gleicht einer Ersatzfamilie. Es ist ein neues und vor allem ein sicheres Dach über den Köpfen der vielen jungen Menschen, die aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und Somalia kommen. Sie werden fachlich begleitet und bekommen emotionalen Halt.

Die Wörter «Mama Maria» und «Papa Patrick» haben für manche Jugendliche grosse Bedeutung – besonders für Idil, weil sie alles verloren hat. Im Unterschied zu anderen Flüchtlingen wissen ihre Eltern nicht wo sie ist, und sie weiss nicht wo ihre Eltern sind. Es sind Überlebenswörter.

Haben sich die Jugendlichen Ihnen gegenüber schnell geöffnet?

Ja, erstaunlich schnell. Das hat mich gerührt. Die beiden Jugendlichen, die ich besser kennenlernen durfte, Idil und Saimon, sind beides sehr verwundete Jugendliche, die psychologisch gesehen extrem viel leisten mussten. Und sie haben – so hoffe ich – einen Blick entwickelt für Gefahren, und vielleicht auch schnell gespürt, dass ich es ernst meine und sie wirklich kennenlernen möchte.

Was es heisst am Vierwaldstättersee den Sommer zu verbringen und nicht schwimmen zu können?

Mir war auch sehr sehr wichtig nicht nochmals alles zu ihrer Flucht aufzurollen. Ich wollte nach vorne blicken. Die Frage «Was heisst es hier Fuss zu fassen?» war für mich zentral.

In Kriens wurde das ehemalige Motel zum Asylzentrum.
Legende: In Kriens wurde das ehemalige Motel zum Asylzentrum. ZVG

Und was heisst es hier Fuss zu fassen?

Verschiedene Integrationsschritte wurden mir plötzlich bewusst. Zum Beispiel der Schwimmkurs. Da hängt die ganze Traumatisierung mit dem Mittelmeer, mit der Überfahrt für die afrikanischen Jugendlichen zusammen.

Was es heisst am Vierwaldstättersee, an diesem riesigen Gewässer den Sommer zu verbringen, nicht schwimmen zu können – und jetzt schwimmen zu lernen? Oder was bedeutet es ein Pyjama zu tragen?

Pyjama? Wie meinen Sie das?

Zur Sendung

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Die Sendung «Ankommen!» beschäftigt sich mit den stilleren Themen der Inklusion: Essen, Geld, Jahreszeiten, Werte, Regeln, Verkehr und die Sache mit dem Pyjama: am 30.12.2016 um 20:00 Uhr auf Radio SRF 2 Kultur.

Man muss sich vorstellen, dass die Jugendlichen monatelang, manche auch länger als ein Jahr, auf der Flucht waren. Sie schliefen auf einer Bank, auf dem Schiff, im Zug, da und dort – immer in Schuhen und Kleidern. Sie mussten immer auf der Hut sein.

Das Pyjama ist ein Symbol für Sicherheit: Jetzt kann man zur Ruhe kommen, jetzt darf man schlafen, träumen und die Kontrolle verlieren. Das war nicht unbedingt eine Erlösung, sondern für viele ein schwieriger Schritt, um zu versuchen mit dem Abzuschliessen was war.

Für die Jugendliche stellt der Verkehr in der Schweiz eine unglaubliche Gefahr dar.

Was ist Ihnen noch aufgefallen?

Ein weiteres Thema war der Umgang mit Jahreszeiten. Viele haben die Kälte noch gar nie richtig erfahren. Das Team hatte viel zu tun, um zu kontrollieren: Gehen die Jugendlichen adäquat, warm gekleidet zur Schule, damit sie nicht reihenweise krank werden?

Auch muss das Verhalten im Verkehr gelernt werden. Die meisten Jugendlichen sind in kleinen Dörfern aufgewachsen. Da kommt pro Tag vielleicht ein Auto vorbei. Für sie stellt der Verkehr in der Schweiz eine unglaubliche Gefahr dar, weil sie das Einschätzen von Distanz-Geschwindigkeit nie gelernt haben. Deshalb gibt es Verkehrstraining.

Was möchten Sie den Hörern Ihrer Sendung «Angekommen!» mitgeben?

Ich wünsche mir, dass man einen anderen Blick bekommt für diese lebenstüchtigen, sehr geforderten Jugendlichen. Sie leisten unglaublich viel. Das nicht nur intellektuell, mit Sprache lernen – sondern auch psychologisch: Was lassen sie hinter sich, was nehmen sie mit in diese Welt der Sicherheit und des Überflusses?

Ich finde, sie verdienen in erster Linie Unterstützung und hohen Respekt und nicht einfach den skeptischen Blick «Oh, das ist jetzt auch so einer, der uns auf der Tasche liegt».

Die Fragen stellte Tamara Funck.

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