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500 Jahre Reformation Die Reformation brachte Freiheit – aber bitte nicht für alle

Die Reformation befreite die Gesellschaft im 16. Jahrhundert. Doch echte Freiheit brachte sie nicht. Die Reformatoren gingen harsch gegen ihre Kritiker, Abweichler und Andersgläubige vor. Das spürten auch die Juden, gegen die Martin Luther übel hetzte.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Glaubensspaltung löste tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft aus, mit zum Teil fatalen Folgen.
  • Die Reformation war nicht nur eine Befreiungsbewegung: Sie tolerierte die religiöse Vielfalt, die sie selbst ausgelöst hatte, nicht.
  • Kriege, Verfolgungen und Unterdrückung waren die Konsequenzen.
  • Die negativen Folgen der Reformation reichen bis in unsere Gegenwart – so die These eines Historikers.

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Legende: zvg

Der Historiker Jan-Friedrich Missfelder ist Oberassistent an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsgebieten gehören die Renaissance und die Reformation.

Lesedauer: 10 Minuten

Ist die Reformation schuld am Klimawandel? Und an der Krise der Demokratie? An der vermeintlichen kulturellen Orientierungslosigkeit der Postmoderne?

Sind Luther, Zwingli und Calvin am Ende verantwortlich für die grossen Probleme der Menschheit am Beginn des 21. Jahrhunderts? Eine steile These. Und doch spricht manches dafür.

Die Reformation – schuld am Klimawandel?

Nehmen wir den Klimawandel. Die meisten Wissenschaftler, Intellektuellen und Politiker sind sich einig: Die Klimaerwärmung ist ein unbeabsichtigter, aber umso verhängnisvollerer Nebeneffekt der weltweiten Industrialisierung.

Kapitalismus und die industrielle Revolution haben den Weg frei gemacht für wirtschaftlichen Aufschwung und die moderne Konsumgesellschaft.

Max Weber schaut ernst.
Legende: Max Webers These: Die Protestanten sind mit ihrer Neubewertung der Arbeit die Triebfeder des Kapitalismus gewesen. Getty Images

Triebfeder des Kapitalismus

Der Kapitalismus ist zwar älter als die Reformation. Doch vermutete der deutsche Soziologe Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass der Kapitalismus durch die reformierte Wirtschaftsethik, die Arbeit und Gewinnstreben auch als Gottesdienst verstand, einen ungeahnten Aufschwung erlebte.

So hängt dann alles mit allem zusammen: die Reformation mit dem Kapitalismus, der Kapitalismus mit der Industrialisierung und die Industrialisierung mit dem Klimawandel.

Sündenbock Reformation?

Diese düstere Rechnung macht der amerikanische Historiker Brad S. Gregory in seinem 2012 erschienenen Buch «The Unintended Reformation» (die unbeabsichtigte Reformation).

Natürlich macht es sich Gregory nicht so einfach, allzu direkte Verbindungen zwischen dem 16. und dem 21. Jahrhundert zu ziehen. Probleme wie den Klimawandel schätzt Gregory höchstens als unbeabsichtigte Nebenfolge der Reformation ein.

Der Zweifel als Norm

Buchhinweis

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Brad S. Gregory: «The Unintended Reformation – How a Religious Revolution Secularized Society, Belknap Press, 2012.

Zugleich macht Gregory in der Reformation des 16. Jahrhunderts ein Grundproblem aus, welches die Geschichte seither bestimmt habe: Die Kritik der Reformatoren erschütterte allgemeingültige religiöse und gesellschaftliche Wahrheiten des Mittelalters grundlegend.

Mit der Kirchenspaltung in Protestanten und Katholiken sei der universelle Zweifel zur Norm geworden: Wo einmal Einheit im Glauben, Denken und Zusammenleben gewesen sei, herrsche in der Moderne ein «Hyperpluralismus». Es konkurrieren unterschiedliche Wahrheiten, die mal nebeneinander existieren, mal gegeneinander kämpfen.

Lutheraner, Zwinglianer, Calvinisten, Methodisten und Katholiken beanspruchen seit dem 16. Jahrhundert, dass sie – und nur sie – die eine christliche Wahrheit erkannt hätten.

Luther auf Badges.
Legende: Die Wahrheit hat viele Gesichter: Luther liess allerdings neben seiner Auslegung der Bibel keine andere zu. Keystone

Nach der Reformation kamen die Kriege

Bei der Lektüre von «The Unintended Reformation» kann man den Eindruck gewinnen, der bekennende Katholik Gregory wünsche sich in eine Zeit zurück, als die römische Kirche unhinterfragt vorgeben konnte, was zu glauben sei.

Man kann auch mit guten Gründen bezweifeln, dass sich die vielfältigen Verwerfungen der neuzeitlichen Geschichte so einsinnig auf Luthers Kritik an Rom zurückführen lassen. Doch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Glaubensspaltung, die die Reformation auslöste, fatale Folgen hatte.

Der Dreissigjährige Krieg von 1618 bis 1648 etwa verwüstete weite Teile Mitteleuropas, hinterliess Millionen von Toten und entvölkerte ganze Landstriche. Auch kleinere konfessionelle Konflikte, wie etwa die Kappeler Kriege, brachten ein komplexes Gemeinwesen wie die schweizerische Eidgenossenschaft im frühen 16. Jahrhundert in eine ernste Krise.

Ein kriegerisches Gemetzel an der Schlacht von Lützen.
Legende: Die Schlacht bei Lützen war eine der grausamsten Schlachten des Dreissigjährigen Krieges. Über 6000 Soldaten starben. Wikimedia / Swedish Wikipedia

Bittere Auseinandersetzungen

Was mit der theologischen Kritik eines Martin Luther, Huldrych Zwingli oder Jean Calvin an den kirchlichen Zuständen in Deutschland und in der Schweiz begann, entwickelte sich zu einem «Konfessionsfundamentalismus», den der deutsche Historiker Heinz Schilling für die blutigen Krisen des 17. Jahrhunderts mitverantwortlich macht.

Lutheraner, Reformierte und Katholiken bildeten nicht nur eigene dogmatische Lehrgebäude und separate kirchliche Institutionen aus. Sie verwickelten sich auch in bittere Auseinandersetzungen mit konfessionellen Gegnern.

Eine Zeichnung vom Augsburger Religionsfrieden.
Legende: Der Augsburger Reichsfrieden 1555 war ein Kompromiss, der nicht alle einschloss. Getty Images

Krieg, Leid und Tod

Zwar hatte man sich 1555 auf dem Augsburger Reichstag mühsam auf einen Religionsfrieden im Heiligen Römischen Reich verständigen können, doch der galt nur für die lutherischen und katholischen Teile des Reiches – die Reformierten schloss er aus. Gerade diese Einseitigkeit barg, wie der Weg in den Dreissigjährigen Krieg zeigen sollte, gewaltiges Eskalationspotenzial.

Das Buchcover von «An den christlichen Adel deutscher Nation».
Legende: Luthers «An den christlichen Adel deutscher Nation» nahmen Gläubige zum Anlass, selbst die Bibel zu interpretieren. Wikimedia / Torsten Schleese

Kurz: Die Reformation brachte nicht nur unterschiedliche Varianten des Christentums und verschiedene Kirchentümer hervor. Weil Religion und Politik in der frühen Neuzeit eng verzahnt waren, wurden auch Staaten konfessionalisiert, gegeneinander in Stellung gebracht oder in Bürgerkriege gestürzt. Krieg, Leid und Tod in unerhörtem Ausmass waren die Folge.

Vielfalt wurde nicht geduldet

Schon die Reformation selbst hatte ein Problem mit der Vielfalt innerhalb der Bewegung.

Nachdem Martin Luther in seiner Schrift «An den christlichen Adel deutscher Nation» von 1520 gegen die kirchliche Hierarchie und für ein Priestertum aller Gläubigen argumentiert hatte, begannen überall im Reich und auch in der Schweiz Laien mit der eigenständigen Lektüre und Auslegung der Heiligen Schrift.

Überall bildeten sich Lesezirkel, Bibelkreise und geheime Kleingruppen in Privathäusern, in Gaststuben und teils auch verborgen in den Wäldern, um dem wachsamen Auge der römischen Kirche zu entgehen.

Sie predigten Gütergemeinschaft, verweigerten die Kindertaufe, lehnten die Autorität der Priester ab und verweigerten die Abgabe des Zehnten.

500 Jahre Reformation

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Die Reformation ist nicht Geschichte. Sie prägt uns bis heute. Vom 29. Oktober bis zum 5. November 2017 zeigt SRF Kultur, warum Luther, Calvin und Co. nicht passé sind. Alle Inhalte rund um unseren Schwerpunkt finden Sie hier.

Luther verlor die Kontrolle

Luther und den anderen Reformatoren wurde bald klar, dass diese Vielfalt und Widersprüchlichkeit innerhalb der reformatorischen Bewegung nicht in ihrem Sinne sein konnte.

Zu unkontrollierbar waren diese «Schwärmer», Täufer und selbsternannten Propheten, zu radikal die gesellschaftlichen und politischen Folgerungen, die diese aus der evangelischen Botschaft zogen.

Der Bauernkrieg: Rebellion oder Reformation?

1524/25 erhoben sich in grossen Teilen Deutschlands die Bauern gegen ihre Herren und beriefen sich dabei auf jene «christliche Freiheit», die Luther gepredigt hatte. Sie verbanden ihre konkreten Forderungen nach Steuerbefreiung und Aufhebung der Leibeigenschaft mit einer religiösen Kritik an den geistlichen und weltlichen Eliten.

Für radikale evangelische Theologen wie Thomas Müntzer schien sich im Bauernkrieg die Möglichkeit einer Verwirklichung von Gottes Reich auf Erden zu bieten.

Luther hingegen hielt diese Vision für Rebellion und sah die reformatorische Bewegung in Gefahr. In wütenden Schmähschriften wandte er sich gegen die «mörderischen und räuberischen Horden der Bauern» und stellte sich auf die Seite Fürsten und Herren.

Thomas Müntzer wurde auf eine Hauswand gemalt.
Legende: Heute ziert er Hauswände: der radikale evangelische Theologe Thomas Müntzer. Imago/Steinach

Die Entscheidungsschlacht bei Frankenhausen im Mai 1525 war ein Gemetzel. Mehr als 6000 Bauern fielen, ihre Widerstandsbewegung war gebrochen, die Reformation auf die Unterstützung der Fürsten und Städte angewiesen.

Zwingli wehrte sich gegen den «Wildwuchs»

Nicht nur Martin Luther, auch Huldrych Zwingli witterte Aufruhr unter den radikalen Anhängern der Reformation und begann, diesen «Wildwuchs» brutal zu beschneiden.

Die Anführer der Zürcher Täufer – Konrad Grebel, Felix Manz und Jörg Blaurock – waren ursprünglich Zwinglis Weggefährten gewesen. In Zürich hatte Grebel an jenem Fastensonntag im März 1522 mit Zwingli zwei Rauchwürste geteilt, das Fastengebot demonstrativ gebrochen und damit die Zürcher Reformation ausgelöst. Manz hatte zusammen mit Zwingli das Alte Testament und die hebräische Sprache studiert.

Eine Illustration, die Luther zeigt und eine geteilte Wurst.
Legende: Erst teilten sich Konrad Grebel und Huldrych Zwingli eine Wurst. Dann gingen sie separate Wege. SRF / Monika Aichele

Wenn Verbündete Feinde werden

Bald offenbarten sich immer mehr Differenzen zwischen ihnen. Während Zwingli in enger Abstimmung mit der weltlichen Obrigkeit eine Verankerung der reformatorischen Lehre in der Kirche anstrebte und dabei immer wieder Kompromisse einging, sonderten sich die Täufer in kleinen, unabhängigen Gemeinden mehr und mehr von den bestehenden kirchlichen Strukturen ab. Sie verfolgten einen kompromisslosen Weg zum Evangelium, wie sie es verstanden.

Mehrere Versuche der Versöhnung und Reintegration scheiterten. Schliesslich mussten Konrad Grebel und Jörg Blaurock Zürich fluchtartig verlassen, Felix Manz jedoch wurde als Hochverräter angeklagt und im Januar 1527 in der Limmat ertränkt.

Der Antisemit Luther

Die reformatorische Bewegung, die selbst als Rebellion gegen eine übermächtige Papstkirche begonnen hatte, ging harsch gegen Abweichler vor.

Dies bekamen nicht nur die Abweichler von der Hauptlinie der lutherischen, zwinglianischen und calvinistischen Theologie zu spüren. Auch die Juden waren von dieser Unterdrückung betroffen.

Ein Relief einer Sau an einer Kirche.
Legende: Das Relief «Die Judensau» prangt bis heute an der Wittenberger Predigtkirche – dort wo Luther predigte. Imago / epd

Martin Luther hatte in den 1520er-Jahren die Hoffnung gehegt, durch die Offenbarung des Evangeliums und die Emanzipation von der römischen Kirche würden die Juden Europas nun zum reformatorischen Christentum konvertieren. Eine vollkommen unrealistische Hoffnung, zweifellos.

Als dem alten Luther 20 Jahre später klar wurde, dass sie sich in keiner Weise erfüllte, schrieb er üble antisemitische Streitschriften und rief dazu auf, die Häuser der Juden abzureissen und ihre Synagogen niederzubrennen.

Zwischen Befreiung und Unterdrückung

Die Reformation war also nicht nur eine Befreiung von den Missständen der spätmittelalterlichen Kirche. Sie zeigte im Umgang mit ihrer eigenen religiösen Vielfalt immer wieder unterdrückende Züge.

Ob sie damit allerdings für all die Missstände der Gegenwart – vom Fundamentalismus bis zum Klimawandel – verantwortlich gemacht werden kann, ist fraglich. Zu komplex sind die Einflüsse, die die heutige Zeit zu dem gemacht haben, was sie ist.

Die Geschichte der Reformation zeigt aber, was für gewaltige Folgen Luthers, Zwinglis und Calvins Kritik an ihrer eigenen Gegenwart hatte – im Guten wie im Schlechten.

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