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In einem Fenster spiegeln sich eine Pornoszene. Ein Mann und eine Frau küssen sich bald.
Legende: Pornografie als Spiegel der Gesellschaft: Rakha misst der Pornografie eine grosse Bedeutung zu. Getty Images
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Der Reiz am Porno Arabische Pornografie: Der wahre Aufstand?

In seinem Essay «Arab Porn» erkundet der ägyptische Autor Youssef Rakha die Pornografie in der arabischen Gesellschaft. Sie ist für ihn Symbol eines Aufstands, der wirksamer sein könnte als der politische Protest.

SRF: Sie behaupten in Ihrem Essay «Arab Porn»: Eine Frau, die sich bei der Masturbation filmt, ist bedeutender als ein Aktivist, der Steine wirft.

Youssef Rakha: Die Frau, die sich selbst für einen Porno filmt, ist für mich interessanter. Diese Situation enthält viele Bedeutungsebenen und reflektiert die Komplexität der gesellschaftlichen Situation weit mehr als die zweidimensionale Erzählung vom Freiheitskämpfer und der Unterdrückermacht. Diese Geschichte von David und Goliath, die für mich die ganze Idee des Aufstands ruinierte.

Das Buch «Arab Porn»

Was unterscheidet den arabischen Porno von seinem westlichen Pendant? Und was macht ihn so besonders? Im Essay «Arab Porn» geht der ägyptische Schriftsteller und Journalist Youssef Rakha der arabischen Pornografie auf den Grund und fragt: Kann die Pornografie das schaffen, was dem arabischen Frühling misslang? Das Buch erschien 2017 beim Verlag Matthes & Seitz.

Sie sprechen den arabischen Frühling 2011 an. Er hat Sie dazu bewegt, «Arab Porn» zu schreiben.

Ich war damals einige Monate lang extrem optimistisch und engagiert. Ich erkannte aber schnell, dass der arabische Frühling nicht das war, was ich darin gesehen hatte – nämlich einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel. Er war eine Erweiterung der bestehenden patriarchalischen Machtstrukturen.

Es folgte eine lange Phase der Enttäuschungen. Nach der Ernüchterung konnte ich etwas klarer über alles nachdenken und versuchte zu artikulieren, was meiner Meinung nach falsch gelaufen war.

Ein Mann wirft Steine auf Polizisten. Die Szene spielt sich in Kairo ab.
Legende: Steine werfen – bringt nichts? Die Pornografie könne mehr Veränderung in die arabische Gesellschaft bringen, so Rakha. Getty Images

Was lief denn beispielsweise falsch?

Das Begehren etwa wurde vollkommen ignoriert.

Noch während des arabischen Frühlings 2011 erfuhr ich von Blogs, Twitter und der ganzen Online-Welt. Es entstand eine Art alternative Gesellschaft. Dort stiess ich dann auf diese pornographischen Clips – und beschloss, mich in das Thema Begehren und Macht zu vertiefen.

Was ist so besonders an diesen Clips?

Sie sind viel persönlicher, unprofessionell gemacht und sagen viel mehr über die Gesellschaft aus als kommerzielle Pornofilme.

Zu sehen, wie sich diese Menschen präsentierten, war weniger eine Überraschung als ein Zeichen. Sie nahmen nicht die Position der Aktivisten oder der Helden ein, erschienen aber gleichzeitig wie diese im Netz. Ich war sehr erfreut darüber, dass diese Clips überhaupt existierten.

Im Kontext des arabischen Frühlings machten diese Menschen Aussagen über ihre Sexualität. Sie erschütterten mit diesen Clips – diesen selbstgemachten Schreien in der Dunkelheit – den Status Quo mehr als der Aktivismus während des arabischen Frühlings.

Für mich ist der politische Aktivismus das Triviale.

Zur Person

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Zur Person
Legende: ZVG

Youssef Rakha, geboren 1976 in Kairo, ist ein ägyptischer Dichter, Essayist, Journalist, Fotograf und Herausgeber. Er studierte Englische Literatur und Philosophie in England. Er schreibt regelmässig für Zeitungen und hat mehrere Bücher geschrieben. Sein erstes Buch «The Book of the Sultan's Seal» erschien 2011, kurz nach Mubaraks Rücktritt.

Sie bezeichnen diese Clips sogar als «Fenster zur arabischen Gesellschaft».

Ja, aber andere würden sagen: Pornografie ist ein völlig banales Thema. Es ist unwichtig.

Für mich ist aber der politische Aktivismus das Triviale. Er verändert nichts oder nur Details: Wie wer wo an der Macht ist – und möglicherweise, wie Macht ausgeübt wird. Er ändert aber nichts an den grundsätzlichen gesellschaftlichen Strukturen.

Diese Porno-Clips hingegen sagen auf spektakuläre Weise etwas über das Leben aus – und das in einer sehr intensiven, rauen und hemmungslosen Art. Sie drücken einen tiefen, unterschwelligen Wunsch aus, sexuell präsent zu sein. Etwas, was die Gesellschaft leugnet und die Kultur bestreitet. Deshalb sind sie interessant.

Manche Clips wirken dabei gar so, als wären sie als Nachricht an den Partner bestimmt. Eine Frau spricht über Aspekte aus ihrem Leben, die sie krank machen, über ihre Familie, die sie einengt. Während sie redet, spielt sie mit sich selbst.

Die Porno-Clips drücken einen unterschwelligen Wunsch aus, sexuell präsent zu sein. Etwas, was die Gesellschaft leugnet und die Kultur bestreitet.

Im Buch beschreiben Sie einen Pornofilm mit einer verschleierten Frau.

Dieser Film wurde in einem Krankenhaus gedreht. Die Frau wollte den Hidschab nicht ablegen. Es war ihr zu mühsam, ihn auszuziehen und wieder anzuziehen. Das ist sehr vielsagend.

Eine Frau trägt einen Hidschab. Sie scheint zu kommen.
Legende: Einen Hidschab tragen und einen Porno drehen: Geht das zusammen? (Screenshot aus einem arabischen Porno-Clip) «Arab Porn», Mathes & Seitz

Warum?

Sie trägt den Hidschab, der unantastbar machen soll. Gleichzeitig schläft sie aber mit jemandem und lässt sich filmen. Das sagt viel über die ägyptische Gesellschaft aus – über eine Art der sehr komplexen Heuchelei.

Im Essay erklären Sie, dass der Hidschab bereits eine sexuelle Bedeutung in sich trägt. Er lade die Öffentlichkeit sexuell auf.

Zumindest im arabischen Raum. Je mehr die Geschlechter getrennt sind und je mehr sich Frauen bedecken, desto mehr sexuelle Spannung entsteht.

Wenn es zum Beispiel um sexuelle Belästigung geht, wird die Schuld den Opfern zugeschoben, weil sie zu provokativ gekleidet sind. Dann verschleiern sie sich, werden aber immer noch belästigt.

Die Frauen haben das Gefühl, dass sie sich bedecken müssen, weil der weibliche Körper tabu sei. Das ist eines der hässlichsten Dinge, die man sich vorstellen kann.

Sexuelle Belästigung ist für mich ein Ausdruck des Problems, das die Gesellschaft mit Frauen und Sexualität hat.

Ist denn sexuelle Belästigung eine Frage der Macht?

Ich denke nicht. Diese Macht ist extrem kurzlebig und hat einen sehr hohen Preis – zum Beispiel, wenn du erwischt wirst. Eine Gruppe von Männern zum Beispiel, die durch die Strassen zieht, hat keine wirkliche Macht.

Sexuelle Belästigung ist für mich ein Ausdruck des Problems, das die Gesellschaft und die Kultur mit Frauen und Sexualität hat. Es hat auch mit der Vorstellung zu tun, dass der weibliche Körper eben tabu ist. Und damit, dass Sex eine exklusive, schwer zu erreichende Aktivität ist.

Eine Frau mit Hidschab steht vor einer Moschee.
Legende: Der Hidschab als Reiz? Rakha findet: Je mehr Frauen sich bedecken, desto mehr sexuelle Spannung entsteht. Getty Images

Der Titel «Arab Porn» ist sehr provokant. Was wollen Sie mit ihrem Essay erreichen?

Viele Leute in Europa werden sich das Buch aus Sensationslust ansehen. Weil es um Pornos geht und um eine vermeintlich konservative muslimische Gesellschaft.

Die arabische Sexualität ist aber nicht spannender oder exotischer als jede andere Form von Sexualität. Es gibt aber offensichtlich interessante soziale und kulturelle Aspekte im arabischen Porno.

Ich wollte vor allem zeigen: Der arabische Porno existiert – das ist das Schöne. Und er ist interessanter als diese Aufregung um den Aktivismus und um den Protest, bei dem viele Menschen leider sinnlos sterben mussten.

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