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Was am Morgarten tatsächlich geschah
Aus Kontext vom 25.10.2020. Bild: KEYSTONE / GAETAN BALLY
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Sagenumwobene Schlacht Der Heldenmythos Morgarten lässt sich nicht zertrümmern

Morgarten, Rütlischwur, Wilhelm Tell: Historiker entlarvten viele Schweizer Legenden. Trotzdem halten sich die Mythen hartnäckig.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Historische Quellen zur Schlacht am Morgarten 1315 gibt es beinahe keine.
  • Jahrhunderte später haben Dichter und Künstler die Schlacht romantisiert dargestellt. Diese Rezeption prägte das Geschichtsbild über Generationen.
  • Die Politik nutzte die Heldengeschichte am Morgarten, um der jungen Nation im 19. Jahrhundert eine Identität zu geben.
  • Erst in den letzten 50 Jahren haben Historiker die Legende entlarvt. Dennoch hält sich der Mythos hartnäckig.

Die Schlacht am Morgarten vom 15. November 1315 ist ein Phänomen. Zum einen ist die historische Quellenlage so schlecht, dass wir praktisch nichts zum Geschehen wissen. Verbürgt ist lediglich, dass es wohl in irgendeiner Form einen Waffengang zwischen eidgenössischen und Habsburger Kräften gegeben hat.

Zum anderen ist es verblüffend, wie sehr ausgerechnet diese Schlacht seit Jahrhunderten die Menschen fasziniert. Die schriftlichen und bildnerischen Darstellungen des Morgarten-Kriegs – allesamt aus späterer Zeit – scheinen zahllos.

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Was geschah am Morgarten wirklich?
Aus Kultur Webvideos vom 16.10.2020.
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Morgarten als Romansujet

Das jüngste Kapitel in der nicht abbrechen wollenden Kette von Erzählungen liefert der Schweizer Autor Charles Lewinsky. In seinem neuen Roman «Der Halbbart», der für den Schweizer Buchpreis 2020 nominiert ist, findet sich die aktuellste Schilderung des Waffengangs.

Das knapp 700 Seiten dicke Werk spielt in der Innerschweiz des 14. Jahrhunderts. Es erzählt vom alltäglichen Leben im Land Schwyz, von Armut, vom Hunger und von der Allgegenwart der Kirche. Und von einer Zeit, in der es noch keine verlässlichen Kanäle gibt, um Neuigkeiten zu verbreiten.

Die mündliche Überlieferung bestimmt das Wissen um das Geschehen in Gegenwart und Vergangenheit. Auch über den Konflikt am Morgarten.

Rauferei oder veritable Schlacht?

Lewinsky lässt seinen Roman am Ende in der Schlacht zwischen Eidgenossen und Habsburgern gipfeln. Wobei der Begriff «Schlacht» für die Darstellung im Roman etwas hochgegriffen scheint: Lewinsky schildert sie vielmehr als Handgemenge von sehr überschaubarem Ausmass.

Lewinsky sagt, er habe sich bemüht, gründlich zu recherchieren und historisch korrekt zu bleiben – auch wenn er «nicht für die historische Genauigkeit von jedem Detail garantieren» könne. Beim Schreiben habe ihn vielmehr die Frage geleitet, wie «aus Geschichten Geschichte entsteht».

Romantische Geschichtsschreibung

Dieser entspannte Umgang mit dem Geschehen am Morgarten ist eher neueren Datums. Lange Zeit galt eine mythologisch überhöhte Darstellung als historische Wahrheit. Diese Geschichtsschreibung stützte sich auf eine Überlieferung, die Jahrhunderte zurückreichte, sich jedoch kaum um historische Fakten kümmerte.

Vielmehr ging es darum, die Sache der Eidgenossen in einem möglichst guten Licht darzustellen. So wie in der Fassung, welche der aus Einsiedeln stammende Heimatdichter Meinrad Lienert 1914 in seinen «Schweizer Sagen und Heldengeschichten» ablieferte. Das Buch wurde immer wieder neu aufgelegt und blieb bis weit ins 20. Jahrhundert populär.

Die Helden am Morgarten

Demnach zog an jenem Novembertag 1315 im Morgengrauen ein hochgerüstetes Ritterheer unter dem Kommando des Habsburger Herzogs Leopold dem Ostufer des Ägerisees entlang Richtung Schwyz.

Eine historische Zeichnung von zwei grossen Heeren, die gegeneinander kämpfen.
Legende: Morgarten war kaum ein grosses Gemetzel – entgegen der Darstellung der Schlacht aus der Berner Chronik von Diebold Schilling aus dem 15. Jahrhundert. Wikipedia / Diebold Schilling der Ältere

Die Eidgenossen von Uri, Schwyz und Unterwalden, die auf dem Rütli knapp 25 Jahre vorher einen Bund der Freiheit geschlossen haben, sollten mit Waffengewalt dazu gezwungen werden, sich der habsburgischen Obrigkeit zu unterwerfen.

Dieweil die Habsburger am Seeufer entlang zogen, tosten und donnerten plötzlich gewaltige Steinblöcke und Stämme die Abhänge herunter und sorgten im Ritterheer für heillose Verwirrung. Nun tauchten aus Verstecken mit Hellebarden bewaffnete eidgenössische Kämpfer auf.

Unter dröhnendem Kampfeslärm stürmten sie den Abhang herunter, metzelten die Eindringlinge gnadenlos nieder oder trieben sie ins kalte Seewasser – und damit in den sicheren Tod. Nur wenige schafften es, rechtzeitig zu fliehen.

Darstellungen wie diese, die den Morgarten-Mythos für bare Münze nahmen, prägten das Geschichtsbild für Generationen. Frei nach dem Motto: Die Eidgenossen waren die Guten, die am Morgarten dank Heldenmut und Opferbereitschaft ihre Freiheit und Unabhängigkeit verteidigten.

Und dies notabene gegen einen übermächtigen Goliath, dem man tüchtig einheizte und den man das Fürchten lehrte.

Der Angriff der Mythen-Zertrümmerer

Bereits im 19. Jahrhundert wurde an dieser Darstellung erste Kritik laut: Die damals entstehende wissenschaftliche Geschichtsforschung pochte zur Erkundung der historischen Wahrheit zunehmend auf urkundliche Belege – und konnte in Sachen Morgarten so gut wie gar nichts finden.

Der eigentliche Sturm auf die Schweizer Mythen setzte später ein: Vor rund 50 Jahren nahmen Historiker wie Marcel Beck oder Hans Conrad Peyer mit wissenschaftlichen Mitteln das mythologische Geschichtsbild ins Visier.

Im Resultat entlarvten sie die ganze Galerie an eidgenössischen Heldengeschichten als blosse Chimäre – vom Rütlischwur über Wilhelm Tell, die Schlacht am Morgarten bis Winkelrieds angeblichen Opfertod in Sempach 1386. Alles frei erfunden. Oder zumindest zum grössten Teil.

eine farbenfrohe Darstellung von Männern in Gewändern, die etwas schwören
Legende: Regenbogen inklusive: Der Rütlischwur nach dem Wandgemälde von Ernst Stückelberg in der Tellskapelle am Vierwaldstättersee. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Unbekannt / PK_010152 / CC BY-SA 4.0

Die «Mythen-Zertrümmerer» räumten radikal mit der alten Geschichtsschreibung auf, die sich weniger um Fakten bemüht hatte, dafür umso mehr mit dem Weitertragen von Legenden.

Im Zuge der 1968er-Bewegung erschienen Werke wie «Schweizer Geschichte für Ketzer» oder Max Frischs Erzählung «Wilhelm Tell für die Schule»: Bücher, welche die Gründungsmythen als unhistorisch verspotteten – und in konservativen Kreisen für rote Köpfe sorgten.

Die meisten Heldengeschichten sind erfunden

In Fachkreisen habe sich heute die Auffassung durchgesetzt, dass es sich bei Heldengeschichten wie derjenigen des Morgarten-Kriegs zu einem guten Teil um Mythen handle, sagt der Historiker Bruno Meier, Autor des aktuellen Geschichtswerks «Von Morgarten bis Marignano» über die Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft. Die Heldengeschichten müssten streng unterschieden werden von den historischen Fakten.

Laut Meier hat Charles Lewinsky möglicherweise recht mit seiner Auffassung, wonach sich in Morgarten lediglich einige wenige habsburgische Ritter eine Auseinandersetzung mit einem Trupp Eidgenossen geboten hätten. Dass es den Konflikt gab, sei indessen «unbestritten».

Den wichtigsten Beleg dafür bietet laut dem Historiker Bruno Meier eine Bündnisurkunde, die überliefert ist, und welche die Eidgenossen wenige Tage nach Morgarten in Brunnen schlossen. Dieses Dokument nahm Bezug auf die Ereignisse am Ägerisee, ohne allerdings Details zu nennen.

Ein dicht beschriebenes gelbliches papier mit den drei Siegeln am unteren Ende.
Legende: Der Bundesbrief von Brunnen vom 9. Dezember 1315 war eine direkte Folge des Morgartenkriegs. Er regelte die Beziehungen der Waldstätte nach innen und nach aussen. KEYSTONE / GAETAN BALLY

Dieses Bündnis zwischen den drei Zentralschweizer Orten – und damit indirekt auch die Morgarten-Schlacht – habe langfristige Auswirkungen gehabt, sagt Bruno Meier. «Der Bund von Brunnen ist in der späteren Chronistik immer präsent geblieben und war für die Entstehung der Eidgenossenschaft durchaus von Bedeutung.»

Alle anderen Darstellungen des Konflikts, die zum Teil reich ausgeschmückt sind, stammten aus späterer Zeit, sagt Bruno Meier. Sie seien für das Verständnis des genauen Schlachtverlaufs wenig zuverlässig. Über die Opferzahlen beispielsweise «weiss man praktisch nichts».

Streit um Weiderechte

Etwas besser informiert sei man über die Ursachen des Konflikts. Gemäss Meier bestand ein Streit um Weiderechte zwischen den Landleuten von Schwyz und dem benachbarten Kloster Einsiedeln. Dies dürfte den Schirmherrn des Klosters, den Habsburger Herzog Leopold, auf den Plan gerufen haben.

Zum anderen habe vermutlich auch der Umstand eine Rolle gespielt, dass es zu jener Zeit im Heiligen Römischen Reich zwei Könige gab, die sich bekämpften – ein offiziell installierter, den die Schwyzer unterstützten, und ein Gegenkönig aus dem Haus Habsburg. «Dieser Konflikt auf höherer politischer Ebene spielte vermutlich in das Geschehen 1315 hinein», sagt Meier.

Literatur zum Thema

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Sachbücher

  • Bruno Meier: «Von Morgarten bis Marignano. Was wir über die Entstehung der Eidgenossenschaft wissen.» Hier und Jetzt, 2015.
  • Annina Michel: «Die Schlacht am Morgarten. Geschichte und Mythos.» SJW, 2014.

Romane

  • Charles Lewinsky: «Der Halbbart.» Diogenes, 2020.
  • Meinrad Lienert: «Schweizer Sagen und Heldengeschichten.» Marix, 2009.

Auch wenn der Mythos heute als solcher entlarvt ist – er hält sich zäh. Der Versuch der «Mythen-Zertrümmerer», mit den historischen Legenden mittels wissenschaftlicher Beweisführung ein für alle Mal aufzuräumen, ist offensichtlich ins Leere gelaufen. Oder doch nicht?

Die Politik gab der Schweiz eine Identität

Tatsächlich sind die Zeiten vorbei, wo Heldengeschichten wie diejenigen um Wilhelm Tell, den Rütlischwur oder den Morgarten-Krieg mehr oder weniger vorbehaltlos geglaubt wurden.

So wie etwa nach der Gründung des Bundesstaats 1848: Damals unternahm der noch wenig konsolidierte Nationalstaat grosse Anstrengungen, um dem heterogenen Land zu einer Identität zu verhelfen und es dadurch nach innen und aussen zu stabilisieren.

Die Politik rief in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von identitätsstiftenden Institutionen ins Leben: in Zürich das Landesmuseum, in Bern die Landesbibliothek, in Graubünden den Nationalpark. Das Schweizer Kreuz wurde zum offiziellen Wappen, der 1. August zum Nationalfeiertag.

In jener Zeit erlangten auch die Mythen eine neue Wichtigkeit: Eine gemeinsame Geschichte, auch wenn sie mythologisch aufgebläht war, sollte den Menschen im jungen Bundesstaat ein Wir-Gefühl vermitteln.

So erklärte etwa die Politik das Rütli zur Gründungswiese der Schweiz. In Altdorf entstand ein Telldenkmal in Bronze. Und auf dem vermuteten Gebiet der Morgarten-Schlacht am Ägerisee eröffnete eine Gedenkstätte «für die Helden von Morgarten».

ein Denkmal eines Mannes mit Armbrust und eines Kindes
Legende: Mythos, in Bronze: Wilhelm Tell mit Sohn Walter stehen seit 1895 auf dem Rathausplatz in Altdorf. Reuters / Denis Balibouse

Eine Waffe gegen den Faschismus

Ähnliches geschah zur Zeit des Faschismus in Deutschland und in Italien: Nicht von ungefähr eröffnete gerade zu jener Zeit – im Jahr 1936 – in Schwyz das Bundesbriefarchiv.

In diesem «Tempel des Vaterlandes» durfte die Öffentlichkeit den sogenannten Bundesbrief bewundern, als vermeintliche Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft. Tatsächlich war das Dokument ein lokales Friedensabkommen ohne besondere Bedeutung.

ein schwarz-weiss Foto von einem Saal, wo mehrere Leute versammelt sind
Legende: Mythos, gemalt: In den 1940er-Jahren wurde das Wandbild «Rütlischwur» von Walter Clénin im Bundesbriefarchiv eingeweiht. Getty Images / ullstein bild Dtl. / Schmidli / RDB

Im Sommer 1940 bestellte Henri Guisan, der General der Schweizer Armee, im «Rütlirapport» sämtliche höhere Offiziere auf die angebliche Gründungswiese der Schweiz.

Wo sonst, als an diesem mythologisch aufgeladenen Ort, hätte sich das Armeekader nachdrücklicher auf den Widerstand gegen die Diktaturen einschwören lassen? Auf der beschaulichen Wiese am Urnersee konnte man die Tradition des Mythos förmlich einatmen.

Aufgeklärter Umgang mit Mythos

Heute sind die Zeiten vorbei, da Erzählungen wie der Morgarten-Mythos für die Stabilisierung der Nation eine derart wichtige Funktion erfüllten wie damals. Und auch im Bundesbriefmuseum pflegt man heute einen aufgeklärten Umgang mit dem Mythos.

eine schwarz-weiss Fotografie eines Generals, umringt von Menschen in Tracht
Legende: General Henri Guisan, hier an der 1. August Feier 1941, und das Rütli sind fester Bestandteil des helvetischen Gedächtnisses. KEYSTONE / PHOTOPRESS-ARCHIV

«Man darf den Mythos nicht mit Geschichte verwechseln», sagt die dortige Leiterin Annina Michel. Auch sei auf dem Holzweg, wer glaube, aus dem Mythos eine Anleitung für das heutige politische Handeln abzuleiten. Konkret helfen also die Heldenlegenden kaum weiter, wenn es etwa – wie aktuell – darum geht, das Verhältnis der Schweiz zur EU zu klären.

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Geschichte und Mythos
aus Kontext vom 25.10.2020. Bild: KEYSTONE / PHOTOPRESS-ARCHIV / STR
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Allerdings sind die Mythen gemäss Annina Michel auch nicht einfach Lügengespinste, die man so schnell als möglich vergessen sollte. Sie seien Teil unserer Identität.

«Mythen erklären uns zwar nicht unsere Geschichte. Aber sie sind ihrerseits Teil der Geschichte geworden.» Wer sich damit auseinandersetze, wie unsere Vorfahren mit den Mythen umgegangen sind, erfahre, «wie wir zu denjenigen geworden sind, die wir heute sind».

Die Mythen haben gemäss Annina Michel also bis heute eine Funktion für das Verständnis der Vergangenheit – wenn auch eine völlig andere als zu Zeiten, als man den Mythos mit der Geschichte verwechselte.

verkleidete Männer in weissen Hemden und mit alten Waffen laufen gemeinsam
Legende: Gedenken an die Schlacht bei Morgarten: Die Gruppe «Alte Schwyzer» marschiert am Umzug von Sattel SZ zur Schlachtkapelle im Schornen ZG (Bild von 2014). KEYSTONE / Sigi Tischler

Gute Geschichten faszinieren bis heute

Dass Heldengeschichten bis heute faszinieren und selbst moderne Schriftsteller wie Charles Lewinsky zu dicken Romanen inspirieren, habe jedoch noch einen anderen Grund: «Es sind einfach gute Geschichten, in denen viel los ist.»

Oder anders gesagt: Der Umgang mit den Mythen ist in unserer Zeit deutlich kritischer und auch entspannter als früher.

Dennoch bieten Geschichten, wie diejenige des einfachen Hirtenvolks, das am Morgarten einen übermächtigen Gegner in die Flucht schlägt, ungebrochen gute Unterhaltung, Spannung und Lesegenuss. Und dies zieht beim Publikum – damals wie heute.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 26.10.2020, 9:03 Uhr

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