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Hanan Osman: «Zum Kopftuch zwingt mich niemand»
Aus Sternstunde Religion vom 01.10.2023.
Bild: SRF / DANIELA KIENZLER, FOOD STYLING: MARY MISO abspielen. Laufzeit 15 Minuten 8 Sekunden.
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Zu Hause zwischen den Kulturen Wie ist es, in zwei Welten zu leben?

Hanan Osman trägt Kopftuch und modelt, ihre Eltern sind aus Somalia geflohen. Mentari Baumann hat indonesische Wurzeln, ist katholisch und lesbisch. Über das Leben zwischen den Kulturen – geprägt von Hoffnung und Hürden.

Lebt jemand, der in zwei Welten aufgewachsen ist, stets zwischen ihnen? Ein Gefühl der Zerrissenheit kennt Hanan Osman kaum. Die gläubige Muslimin studiert internationale Beziehungen, ist Model mit Kopftuch und Influencerin für «modest fashion», also modische Kleidung, die den Sittsamkeitsregeln des Islams entspricht.

Zu Hause musste sich Hanan selten erklären, in der Öffentlichkeit hingegen schon. Etwa, als sie sich Mitte 20 von einem Tag auf den anderen entschied, ein Kopftuch zu tragen.

Eine junge Frau in Kopftuch blickt zu Seite.
Legende: Hanan ist Model – auf ihrem Instagramkanal präsentiert sie ihre «modest fashion» und zeigt, wie wandelbar islamkonforme Kleidung sein kann. mbzmedia

Damit wurde ihre Religiosität auf einmal sichtbar. Dass es Hanan Osman dabei allein um ihre Beziehung zu Gott ging, verstanden viele in ihrem Umfeld zunächst nicht. Hanan musste erstmal klarstellen, dass sie nicht unterdrückt und zum Kopftuchtragen gezwungen wurde – was sie ziemlich nervt. «Ich finde es schlimm, dass man mir nicht zutraut, mich selbst entschieden zu haben», sagt sie.

Hanan Osmans Eltern flohen 1991 aus Somalia in die Schweiz. Kurz zuvor wurde der somalische Diktator Siad Barre gestürzt, seither gilt das Land als «failed state», ein Staat ohne funktionierende Zentralregierung, die dschihadistische Terrorgruppe Al-Shabaab beherrscht weite Teile des Landes. 

Die Kinder wurden religiös erzogen, jedoch ohne Zwang, erzählt Hanan. Sie gingen einige Jahre regelmässig in die Moschee. Die Kinder sollten Arabisch lernen, damit sie den Koran selber lesen können.

Die Sache mit der Religion

Religiös ist auch Mentari Baumann. Ihr Verhältnis zur Religion war jedoch nicht immer einfach. Mentari war noch ein Teenager, als sie realisierte, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte. «Homosexualität kannte ich damals nur aus Fernsehserien», erinnert sie sich.

Mentari Baumann sitzt neben anderen Menschen in einem Stuhlkreis.
Legende: Heute sagt Mentari Baumann selbstbewusst: «Lesbisch, gläubig und aktivistisch: Das ist für mich kein Widerspruch.» MANUELA MATT

Vorbilder im echten Leben hatte sie keine. Also informierte sie sich im Internet. Schnell fand sie heraus, dass das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur Homosexualität konfliktbeladen ist. Sie las von konservativen Katholikinnen und Katholiken, die Homosexualität verurteilten. Und beschloss: «Wenn die mich nicht wollen, dann will ich sie auch nicht.»

Die Familie als Fels in der Brandung

Diese Distanzierung fiel ihr nicht leicht. «Ich habe ein Stück Heimat verloren», sagt sie. Schlussendlich hat die junge Katholikin in christlichen und katholischen Communities, die queere Menschen willkommen heissen, eine neue Heimat gefunden.

Sie erzählt offen von ihrer Vergangenheit. Mehr als zehn Jahre sei sie nicht in ihrer zweiten Heimat, Indonesien, gewesen. Grund: Ihre indonesischen Verwandten wussten nichts von ihrer Homosexualität.

Natürlich gibt es auch in Indonesien queere Menschen, aber sie sind weniger sichtbar
Autor: Mentari Baumann

«Die Rechte, die wir hierzulande haben, die ‹Ehe für alle› und den Diskriminierungsschutz, haben sie dort nicht.» Es gebe Regionen, wo gleichgeschlechtliche Beziehungen verboten sind. In Bali und Flores, wo ihre Familie herkomme, ist das immerhin nicht der Fall. «Natürlich gibt es auch in Indonesien queere Menschen, aber sie sind weniger sichtbar», so Baumann.

Womit kämpfen Secondos und Secondas in der Schweiz?

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Legende: Denise Efionayi ist Migrationsforscherin an der Universität Neuenburg. Universite de Neuchatel/Mario Cafiso

SRF: Was sind die Hauptthemen bei der Integration von Secondos und Secondas?

Denise Efionayi: Es hängt davon ab, ob es einen Konflikt gibt zwischen der jeweiligen Herkunftskultur und der hiesigen – und wie die Herkunftskultur in der Schweiz wahrgenommen wird.

Es gab in der Schweiz lange den Tenor, dass Menschen mit Migrationshintergrund unten anfangen, sich hocharbeiten müssen und nicht beklagen sollen. Das betrifft die Migrantinnen und Migranten der ersten Generation. In der Migrationsforschung nennt man dieses Phänomen «Unterschichtung». Das heisst: Die unterste Sprosse der sozialen Leiter war mit ausländischen Migranten besetzt, auch wenn diese Menschen teils überqualifiziert waren. Es war oft ein sozioökonomischer Abstieg für sie. Die Schweizer Bevölkerung aber profitierte davon im Gegenzug mit Aufstieg.

Im Vergleich zu den Eltern, die in einer ihnen ähnlichen Mehrheitsgesellschaft aufgewachsen sind, müssen Secondos und Secondas ihre Persönlichkeit in einer Gesellschaft entwickeln, wo sie herausstechen. Das kann sehr aufreibend und intensiv sein.

Was sind die grössten Schwierigkeiten des Aufwachsens in zwei Welten?

Ich höre immer wieder davon, dass Eltern Kindern mit Migrationshintergrund raten, dass sie mehr leisten müssen, um sich zu beweisen. Das kann neben Ansporn ein zusätzlicher Druck sein und zu Konflikten mit der Familie führen.

Die Adoleszenz ist grundsätzlich eine schwierige Zeit, wo Jugendliche sich von der Familie ablösen wollen. Der Clinch ist aber häufig bei Migrantinnen und Migranten noch stärker. Sie haben ebenfalls das Bedürfnis, sich abzugrenzen, wollen sich aber trotzdem mit den Eltern solidarisieren. Denn: Sie haben bereits ein gutes Sensorium für die Machtverhältnisse in der hiesigen Gesellschaft entwickelt und wissen, dass ihre Eltern teils weniger respektiert werden.

Wie wird diese kulturelle «Zerrissenheit» zu einer Stärke oder einem Vorteil?

Ich sehe immer wieder, dass Menschen mit Migrationshintergrund eine höhere Ambivalenztoleranz haben. Das heisst: Sie können in widersprüchlichen Werten oder Anforderungen besser koexistieren, ohne sich dadurch beirren zu lassen. Hier helfen Vorbilder oder Referenzpersonen, auch ausserhalb der Kernfamilie: Lehrpersonen, Personen aus Popkultur oder Influencerinnen wie Hanan Osman, die vorleben, dass sich beide Welten vereinen lassen. Sehr häufig haben Jugendliche mit Migrationshintergrund gute Vermittlungsfähigkeiten, da sie das lange gemacht haben. Das wiederum kann der Gesellschaft zugutekommen.

Ich will es nicht beschönigen, es gibt sicher auch Fälle, wo es in eine ganz andere Richtung geht: Es gibt Beispiele etwa von Zwangsheiraten, wo man mit der Familie brechen muss. Das sind extreme, aber seltene Beispiele, die auch zu psychischen Problemen führen können.

Hat sich der Diskurs rund um Integration in den letzten Jahren verändert?

Grundsätzlich beobachte ich, dass es eine grössere Offenheit gibt, Diskriminierung und Rassismus kritisch zu hinterfragen. Etwas, was Migrantinnen und Migranten der ersten Generation vielleicht noch über sich ergehen liessen, wird heute angesprochen.

Trotzdem gibt es in der Gesellschaft immer ausschliessende Tendenzen: Subtilere Formen von Diskriminierung sind genauso schmerzhaft, etwa wenn die Zugehörigkeit hinterfragt und eine «Person of Color» zweimal gefragt wird, wo sie denn nun herkomme.

Es passiert in der Schweiz häufig, dass wir zu wenig selbstkritisch sind und vergessen, dass jeder rassistische Tendenzen hat und sich mit diesen auseinandersetzen sollte.

Das Gespräch führte Mara Schwab.

Anfangs haben ihre Eltern nicht recht gewusst, wie sie mit der sexuellen Identität ihrer Tochter umgehen sollten. «Ich habe es ihnen gesagt, als ich selbst noch nicht recht sicher war. Es war also eine gemeinsame Überforderung», erzählt Mentari Baumann. Am Ende habe ihre Familie sie in der Zeit des Coming-outs unterstützt, erinnert sich Baumann.

In den letzten Jahren hat Mentari Baumann damit begonnen, sich die indonesischen Rezepte ihrer Grossmutter anzueignen. Ihr ist wichtig, ihre indonesische Seite nicht zu verlieren. Die Sprache beherrscht sie auch – als Kind ging sie in der indonesischen Botschaft in die Sprachschule. Sie feierte mit den anderen Kindern der indonesischen Diaspora die muslimischen und Hindu-Feste.

Man kann alles erreichen, wenn man will

Die Verbindung zu den Eltern und ihrer Kultur ist für viele wichtig – auch für Hanan Osman: «Meine Eltern mussten in der Schweiz von null auf Deutsch lernen. Davor habe ich den grössten Respekt.» Ihre Mutter sei heute Dolmetscherin. «Meine Eltern haben uns gelehrt, immer das Beste zu geben. Und: Dass man alles erreichen kann, wenn man es will.»

Man muss nicht seine Werte verlieren, nur um dazuzugehören.
Autor: Hanan Osman

Hanan Osman lebt nach diesem Motto und legt einen erstaunlichen Bildungsweg hin: Sie hat nach der Ausbildung zur medizinischen Praxisassistentin die Erwachsenenmatur gemacht und studiert heute internationale Beziehungen in St. Gallen.

Vorurteile, Werte, Zugehörigkeit

Diskussionen über Freiheiten, Ausgang, Alkohol oder Rauchen, wie sie viele junge Menschen mit Migrationshintergrund erleben, hatte Hanan Osman mit ihren Eltern kaum. «Ich durfte alles ausprobieren, unsere Eltern haben uns einfach aufgeklärt, was im Islam erlaubt ist und was nicht.» Rauchen, Alkohol trinken, Sex vor der Ehe sei für sie nie infrage gekommen. «Man muss nicht seine Werte verlieren, nur um dazuzugehören.» Ausgeschlossen habe sie sich dabei nicht gefühlt.

Hanan Osman als Kleinkind in einem roten Pullover.
Legende: Zwischen Somalia und der Schweiz, Arabisch und Schweizerdeutsch: Aufwachsen in zwei Kulturen ist ein Balanceakt, der Hanan seit ihrer Kindheit begleitet. Hanan Osman

Als Frau, als Muslimin mit Kopftuch und als Person of Color ist sie mit vielen Vorurteilen konfrontiert. «Ich werde oft auf Hochdeutsch angesprochen – und manche wechseln nicht einmal dann auf Schweizerdeutsch, wenn ich auf Dialekt antworte», sagt sie. Schon früh fiel die Familie auf, wenn sie im ländlichen Kanton St. Gallen unterwegs war. «Wir nahmen das selbst gar nicht so wahr», erzählt Hanan Osman.

Zwei Welten? Eine Bereicherung!

Als Verwandte aus den USA zu Besuch waren, merkten Hanan und ihre Familie, dass sie im Bus regelmässig angestarrt wurden. Übel nimmt sie das den Leuten nicht. «Sie kannten es nicht anders.» Nachsichtig sein mit jenen, die es nicht besser wissen – und die ignorieren, die unbelehrbar sind. Das ist Hanan Osmans Rezept im Umgang mit Alltagsrassismus.

Hanan sitzt auf einem Sofa in einem weissen Hijab.
Legende: Aufgewachsen ist Hanan ohne Kopftuch – jetzt präsentiert sie ihre Kleidung mit Stolz. oneinchpunch_photos

Trotz der Vorurteile, denen sie im Alltag begegnet, findet Hanan Osman die zwei Welten, in denen sie sich bewegt, eine Bereicherung. Und: sie will ihre Erfahrungen beruflich nutzen. Sie denkt darüber nach, sich nach dem Studium in der Diplomatie zu engagieren.

In zwei Welten zu leben sei zwar herausfordernd, aber ein Gewinn, findet auch Mentari Baumann. «Es gab Tage, da half ich morgens am Schützenfest und schlüpfte dann in eine Tracht für ein indonesisches Fest am Nachmittag», erinnert sie sich. «Das hat mich gezwungen, mich schon früh mit mir selbst zu beschäftigen, um herauszufinden, wer ich bin und was ich im Leben will.»

«Fromme Törtchen» auf Play SRF

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Legende: SRF/Marion Nitsch

Deliziös, divers und diskussionsfreudig: Das ist «Fromme Törtchen», unser neues Back- und Talkformat. Moderatorin Nicole Freudiger lädt sieben Gäste in ihre Küche und backt mit ihnen Süssigkeiten aus ihren Kulturen und Religionen. Dabei reden sie über Heimat, Identität und das Aufwachsen zwischen zwei Welten.

Die Folgen laufen an folgenden Tagen um 18:15 Uhr im TV auf SRF 1 und sind anschliessend auf Play SRF abrufbar:

SRF 1, Fromme Törtchen, 24.9.2023, 18:15 Uhr

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