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Züchtigung in Freikirchen Schlagen im Namen Gottes – mehr als bedauerliche Einzelfälle

Das Schlagen von Kindern war im evangelikalen Umfeld lange an der Tagesordnung. Eine Betroffene bricht das Schweigen.

Vor wenigen Jahren räume ich das Bücherregal meines Vaters um. Da fällt mir ein Buch in die Hand, in dem es um die «richtige», christliche Erziehung geht. Ich schlage es auf und lese darin, dass Eltern ihr Kind bei Fehlverhalten schlagen sollen. Dass das Kind danach bereuen solle und schliesslich – ganz wichtig – dass die Eltern das Kind auf den Schoss nehmen und ihm sagen sollen: «Ich habe dich lieb.»

Es schaudert mich.

Viele wurden geschlagen, wenige haben es erzählt

Dann erscheint vergangenen Herbst die SRF-Dokumentation «Die evangelikale Welt der Läderachs – Züchtigung im Namen Gottes» über die freikirchliche Schule im sankt-gallischen Kaltbrunn. Und darauf eine Diskussion im SRF-«Club» , unter anderem mit Vertretern der freikirchlichen Szene. Der Tenor: Das ist alles schon längst passé. Und: Das sind bedauerliche Einzelfälle.

Illustration: links Vater, Hände auf Hüften, rechts Mutter, schimpfender Finger, Mitte Kind mit Eselsohren.
Legende: Nach den Schlägen: Das Kind sollte sich schämen und seine «Tat» bereuen. Die christliche Ratgeberliteratur riet Eltern zu einer beinahe rituellen Bestrafungstaktik. SRF / PATRICK WIDMER

Schliesslich lese ich, wie sich in den USA, wo die evangelikale Szene viel grösser ist als in der Schweiz, eine Bewegung formiert von heute Erwachsenen, die ihre patriarchale christliche Erziehung aufarbeiten. Zu dieser gehörte auch das sogenannte «Züchtigen».

Die Dunkelziffer ist riesig.
Autor: Natascha Bertschinger Mitarbeiterin der Evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz

Ich beschliesse: Ich will das thematisieren. Ich will darüber sprechen, dass das Züchtigen ein weitverbreitetes Phänomen war – und möglicherweise immer noch ist. Dass es ganz viele Menschen gibt, die als Kinder im Namen Gottes geschlagen wurden und fast niemandem davon erzählt haben.

Statistiken zu Gewalt im religiösen Umfeld

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2013 führte der deutsche Kriminologe Christian Pfeiffer in Niedersachsen eine repräsentative Umfrage unter 56'000 Menschen durch. Er fragte nach Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit Religiosität. Pfeiffer kam zum Schluss, dass jedes 6. Kind aus einer freikirchlichen Familie schwere Gewalt erlebte . Und: Mit dem Grad der Religiosität steige die Gewalt. Die deutsche Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) kritisierte die Studie stark und warf ihr vor, unseriös und oberflächlich zu sein.

2017 publizierte das Institut Empirica eine Studie über christliche Erziehung . Die Populärfassung heisst «Zwischen Furcht und Freiheit. Das Dilemma der christlichen Erziehung» (SCM Verlag). Die Tendenz, dass mit zunehmender Religiosität die Gewaltbereitschaft steigt , wird dort bestätigt. Ebenfalls aber auch der generelle Trend, dass unter hochreligiösen Christen und Christinnen insgesamt das Schlagen je länger je weniger akzeptiert ist. Immerhin 7 Prozent der Befragten gaben aber noch an, körperliche Strafe sei «biblisch und darum einzusetzen».

Für die Schweiz bestätigt eine Untersuchung des Kriminologen Dirk Baier von der ZHAW die Tendenz, dass hochreligiöse Familien eher bereit sind, körperliche Gewalt als Erziehungsmittel einzusetzen .

Gewalt ist auch in der gesamten Gesellschaft ein Thema. Hier lässt sich eine Verlagerung von körperlicher zu psychischer Gewalt feststellen. Laut einer repräsentativen Befragung des Kinderschutzbundes Schweiz von 2020 wird knapp jedes 20. Kind regelmässig körperlich bestraft. Jedes 4. Kind erfährt regelmässig psychische Gewalt – also etwa Liebesentzug oder Drohungen.

Denn wer will schon seine eigenen Eltern öffentlich anklagen? Wer will die eigene Familie verraten, die Menschen, die einem am nächsten sind, die man am meisten liebt? Kein Wunder also, dass dieses jüngere Kapitel in der Biografie vieler Evangelikaler oder Ex-Evangelikaler gerne gut verschlossen bleibt.

Keine Einzelfälle

Natascha Bertschinger, Mitarbeiterin der Evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz, ist Trauma-Therapeutin und begleitet Betroffene. Darüber hinaus ist sie in verschiedenen Netzwerken aktiv, macht sich stark für Sensibilisierung und Prävention.

«Wir müssen als Kirchen hinschauen, was geschehen ist», sagt sie. «Die Dunkelziffer ist riesig.» Sie selbst sei knapp 50, und in ihrer Generation hätten sehr viele Menschen «Züchtigung» im evangelikalen Kontext erfahren.

Aufgearbeitet ist das noch lange nicht. Das bestätigt auch Susanne Schaaf von der Fachstelle Infosekta. «Es ist eine Blackbox», so die Psychologin. Dabei wiesen viele Studien nach, welche Folgen körperliche Gewalt in der Kindheit haben: Schwierigkeiten, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Ängste. Risiko für Depressionen. Kreisläufe aus negativen Gedanken. Erlernte Ohnmacht, die sich auch im Erwachsenenalter hält. Schwierigkeiten, gesunde Beziehungen aufzubauen. Die Liste liesse sich noch weiterführen.

Vier evangelikale Erziehungsverständnisse

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Die Fachstelle Infosekta bietet ein ganzes Dossier zum Thema «Evangelikale Erziehung». Sehr aufschlussreich ist eine Analyse evangelikaler Ratgeber aus dem Jahr 2013 . Die Fachstelle untersuchte in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kinderschutz Schweiz 21 Ratgeber und leitet daraus vier idealtypische Erziehungsverständnisse ab:

  • dogmatisch-machtorientiert
  • dogmatisch-wahrheitsorientiert
  • autoritativ-dogmatisch
  • autoritativ-partizipativ

Die Analyse zeigt, dass nur der «autoritativ-partizipative» Erziehungsstil körperliche Gewalt kategorisch ablehnt. Und sie betont, dass die Frage nach psychischer Gewalt ein weitgehend unerkanntes Problem sei. Es sei schwierig, eine dezidiert evangelikale Erziehung, die zum Ziel hat, das Kind zum Glauben zu führen, mit dem Bestreben nach Freiheit und Autonomie zusammenzubringen.

Auch bei leichten Schlägen, einem regelmässigen «Klaps», sind ähnliche Folgen nachweisbar – in abgestuften Formen. Schlagen macht etwas mit dem Kind, hemmt seine Entwicklung.

Paradoxe Praktik: Schlagen aus Liebe

In einigen Freikirchen sowie in evangelikalen Erziehungsratgebern wurde paradoxerweise genau das gelehrt: Die Kinder sollten geschlagen werden, um sie zum Guten, zu Gott hin zu erziehen. Für viele höchst irritierend, dass der Gott der Liebe so etwas fordert.

Illustration: Vater, Kind und Mutter auf Sofa, Kind sitzt auf dem Schoss der Eltern. Schützende Hand im Hintergrund.
Legende: Nachdem sie das Kind geschlagen haben und es sein Verhalten bereut, sollten die Eltern es auf den Schoss nehmen und ihm sagen: «Ich habe dich lieb.» Solche Praktiken legten christliche Erziehungsratgeber Eltern ans Herz. SRF / PATRICK WIDMER

Dahinter steckt ein zutiefst patriarchales Verständnis, zeigt Ryan Stollar auf. Der Fürsprecher für Missbrauchsüberlebende hat eine Befreiungstheologie der Kinder entwickelt. In der christlich-patriarchalen Vorstellung, so Stollar, steht Gott in der Machtpyramide ganz oben. Er gibt Macht weiter an den Vater, der dann die Kinder «aus Liebe» züchtigen soll, damit diese gehorchen. Es geht um Gehorsam gegenüber den Eltern und letztlich gegenüber Gott.

Buchhinweis

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R. L. Stollar: «The Kingdom of Children. A Liberation Theology». Eerdmans, 2023.

Für die heute 27-jährige Lena, die nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, fühlte es sich damals so an, als ob Gott selbst sie bestrafen wollte: dass sie schlecht sei. Sie entwickelte Ängste. Davor, abgelehnt zu werden. Davor, Fehler zu machen. Mit ihren intensiven Gefühlen falsch zu sein, diese unterdrücken und für sich behalten zu müssen. «Damit fühlte ich mich sehr allein», resümiert sie heute.

Irritierend war für sie vor allem, dass sie ihre Eltern als sonst sehr liebevoll erlebte. «Warum schlagen sie mich dann?», fragte sie sich. Mit 14 konfrontierte sie ihre Eltern. Die entschuldigten sich.

Ich musste lernen, dass es nicht schlimm ist, Fehler zu machen.
Autor: Lena wurde als Kind von ihren Eltern geschlagen

Doch erst vor zwei Jahren fand Lena heraus, was die Gründe für das Schlagen waren: Die Eltern hatten in ihrer FEG (Freien Evangelischen Gemeinde) Erziehungsseminare besucht, in denen dazu geraten worden war, die Kinder zu schlagen – «aus Liebe». Das war in diesem Jahrhundert – nicht in einer lang vergangenen Zeit.

Die Angst, falsch zu sein

Lena hat inzwischen Psychologie studiert und ist auf dem Weg, Therapeutin zu werden. Ihre eigenen Gefühle und ihre Geschichte hat sie reflektiert und einen Umgang damit gefunden. Sie habe lernen müssen, «dass es nicht schlimm ist, Fehler zu machen. Dass man sogar Fehler machen muss, um dazuzulernen».

Sie habe in Beziehungen gelernt, dass sie sich mit ihren Gefühlen anderen zumuten darf, «dass es sogar die Beziehung vertieft, wenn ich das tue». Doch davor musste sie ihre Angst überwinden, die ihr tief in den Knochen sass: die Angst, falsch zu sein und abgelehnt zu werden.

Ich glaube, dass Heilung möglich ist.
Autor: Lena wurde als Kind von ihren Eltern geschlagen

Körperliche Gewalt kommt auch sonst in der Gesellschaft vor, selbstverständlich ist sie kein rein freikirchliches Phänomen. Das Spezifische an Gewalterfahrung im religiösen Kontext ist, dass diese Erfahrung sich zusammen mit theologischen Lehren quasi in den Körper einschreibt.

Wieso greifen Evangelikale zur Züchtigung?

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Das sind die drei Hauptgründe:

  • Ein wörtliches Bibelverständnis.

Vor allem zwei Verse werden in diesem Zusammenhang wiederholt zitiert (Luther-Übersetzung): Erstens: «Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn liebhat, der züchtigt ihn beizeiten.» (Sprüche 13, 24) Zweitens: «Entziehe dem Knaben die Züchtigung nicht! Wenn du ihn mit der Rute schlägst, wird er nicht sterben. Du schlägst ihn mit der Rute, aber rettest sein Leben vom Scheol.» (Sprüche 23,13-14. Scheol=Totenwelt, Unterwelt, etwa «ewige Verdammnis»)

  • Ein patriarchales Verständnis des Christentums, in dem Gott-Vater die Macht weitergibt an das Familienoberhaupt beziehungsweise die Eltern.
  • Wut und Ohnmacht der Eltern – dann werden die Verse als Alibi herangezogen.

Wenn es um die Aufarbeitung geht, dann «rüttelt die betroffene Person zugleich an der Halte-Struktur, die der Glaube ihr gibt», so Natascha Bertschinger. Viele Betroffene verlieren deshalb mit der kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Prägung auch ihren Glauben.

Einen Weg finden – mit Gott und den Eltern

Lena möchte den Glauben an Gott nicht aufgeben. Dieser habe sich aber sehr gewandelt, ebenso ihr Gottesbild. Vieles hinterfrage sie heute, vieles an ihrer Freikirchenprägung sehe sie kritisch. Doch sie habe mit ihren Eltern eine Aussprache gehabt und erlebt die Beziehung als gut.

Es habe ihr geholfen, zu sehen, dass die Eltern auch «Opfer ihres religiösen Systems» waren. Vor allem aber habe sie verstanden, dass «nicht ich das böse Kind war, das es verdiente, geschlagen zu werden. Sondern, dass es meinen Eltern so beigebracht wurde, und sie sich dafür entschieden haben. Die Verantwortung lag bei ihnen – nicht bei mir als Kind».

Drei Personen, links Vater, rechts Mutter, beide mit weissen Haaren, erwachsenes Kind in Mitte, legt Arme um die Eltern.
Legende: Nicht selbstverständlich: Mit den Eltern wieder eine gute Beziehung aufzubauen, ist für viele Betroffene schwierig. Für Lena hat es funktioniert – sie kann ihren Eltern heute auf Augenhöhe begegnen. SRF / PATRICK WIDMER

Lena hat erfahren, dass vieles wieder gut werden kann. Dass negative Erlebnisse durch andere Erfahrungen ein Stück weit «korrigiert» werden können, was die emotionale Entwicklung angeht.

Ganz bewusst sucht sie die Nähe von Menschen, die ihr zeigen, dass sie sie gernhaben. Sie ist überzeugt, dass sie einen Weg finden kann – «mit meinen Eltern, mit mir, mit Gott». Und sie hält fest: «Nicht alles an der Gemeinde war nur schlecht. Gott ist nicht einfach böse. Meine Eltern waren nicht böse. Ich glaube, dass Heilung möglich ist.»

Wo steht die schweizerische Freikirchenlandschaft heute?

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Die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) äusserte sich 2012 explizit gegen den Einsatz von Gewalt in der Erziehung. Für den 7. September 2024 ist gemeinsam mit dem Dachverband Freikirchen.ch ein «Symposium für gelingende Erziehung» geplant. Dort soll auch die Perspektive von Menschen, die «Züchtigung» erlebt haben, vorkommen.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 30.7.2024, 9:03 Uhr.

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