Vor wenigen Jahren räume ich das Bücherregal meines Vaters um. Da fällt mir ein Buch in die Hand, in dem es um die «richtige», christliche Erziehung geht. Ich schlage es auf und lese darin, dass Eltern ihr Kind bei Fehlverhalten schlagen sollen. Dass das Kind danach bereuen solle und schliesslich – ganz wichtig – dass die Eltern das Kind auf den Schoss nehmen und ihm sagen sollen: «Ich habe dich lieb.»
Es schaudert mich.
Viele wurden geschlagen, wenige haben es erzählt
Dann erscheint vergangenen Herbst die SRF-Dokumentation «Die evangelikale Welt der Läderachs – Züchtigung im Namen Gottes» über die freikirchliche Schule im sankt-gallischen Kaltbrunn. Und darauf eine Diskussion im SRF-«Club» , unter anderem mit Vertretern der freikirchlichen Szene. Der Tenor: Das ist alles schon längst passé. Und: Das sind bedauerliche Einzelfälle.
Schliesslich lese ich, wie sich in den USA, wo die evangelikale Szene viel grösser ist als in der Schweiz, eine Bewegung formiert von heute Erwachsenen, die ihre patriarchale christliche Erziehung aufarbeiten. Zu dieser gehörte auch das sogenannte «Züchtigen».
Die Dunkelziffer ist riesig.
Ich beschliesse: Ich will das thematisieren. Ich will darüber sprechen, dass das Züchtigen ein weitverbreitetes Phänomen war – und möglicherweise immer noch ist. Dass es ganz viele Menschen gibt, die als Kinder im Namen Gottes geschlagen wurden und fast niemandem davon erzählt haben.
Denn wer will schon seine eigenen Eltern öffentlich anklagen? Wer will die eigene Familie verraten, die Menschen, die einem am nächsten sind, die man am meisten liebt? Kein Wunder also, dass dieses jüngere Kapitel in der Biografie vieler Evangelikaler oder Ex-Evangelikaler gerne gut verschlossen bleibt.
Keine Einzelfälle
Natascha Bertschinger, Mitarbeiterin der Evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz, ist Trauma-Therapeutin und begleitet Betroffene. Darüber hinaus ist sie in verschiedenen Netzwerken aktiv, macht sich stark für Sensibilisierung und Prävention.
«Wir müssen als Kirchen hinschauen, was geschehen ist», sagt sie. «Die Dunkelziffer ist riesig.» Sie selbst sei knapp 50, und in ihrer Generation hätten sehr viele Menschen «Züchtigung» im evangelikalen Kontext erfahren.
Aufgearbeitet ist das noch lange nicht. Das bestätigt auch Susanne Schaaf von der Fachstelle Infosekta. «Es ist eine Blackbox», so die Psychologin. Dabei wiesen viele Studien nach, welche Folgen körperliche Gewalt in der Kindheit haben: Schwierigkeiten, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Ängste. Risiko für Depressionen. Kreisläufe aus negativen Gedanken. Erlernte Ohnmacht, die sich auch im Erwachsenenalter hält. Schwierigkeiten, gesunde Beziehungen aufzubauen. Die Liste liesse sich noch weiterführen.
Auch bei leichten Schlägen, einem regelmässigen «Klaps», sind ähnliche Folgen nachweisbar – in abgestuften Formen. Schlagen macht etwas mit dem Kind, hemmt seine Entwicklung.
Paradoxe Praktik: Schlagen aus Liebe
In einigen Freikirchen sowie in evangelikalen Erziehungsratgebern wurde paradoxerweise genau das gelehrt: Die Kinder sollten geschlagen werden, um sie zum Guten, zu Gott hin zu erziehen. Für viele höchst irritierend, dass der Gott der Liebe so etwas fordert.
Dahinter steckt ein zutiefst patriarchales Verständnis, zeigt Ryan Stollar auf. Der Fürsprecher für Missbrauchsüberlebende hat eine Befreiungstheologie der Kinder entwickelt. In der christlich-patriarchalen Vorstellung, so Stollar, steht Gott in der Machtpyramide ganz oben. Er gibt Macht weiter an den Vater, der dann die Kinder «aus Liebe» züchtigen soll, damit diese gehorchen. Es geht um Gehorsam gegenüber den Eltern und letztlich gegenüber Gott.
Für die heute 27-jährige Lena, die nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, fühlte es sich damals so an, als ob Gott selbst sie bestrafen wollte: dass sie schlecht sei. Sie entwickelte Ängste. Davor, abgelehnt zu werden. Davor, Fehler zu machen. Mit ihren intensiven Gefühlen falsch zu sein, diese unterdrücken und für sich behalten zu müssen. «Damit fühlte ich mich sehr allein», resümiert sie heute.
Irritierend war für sie vor allem, dass sie ihre Eltern als sonst sehr liebevoll erlebte. «Warum schlagen sie mich dann?», fragte sie sich. Mit 14 konfrontierte sie ihre Eltern. Die entschuldigten sich.
Ich musste lernen, dass es nicht schlimm ist, Fehler zu machen.
Doch erst vor zwei Jahren fand Lena heraus, was die Gründe für das Schlagen waren: Die Eltern hatten in ihrer FEG (Freien Evangelischen Gemeinde) Erziehungsseminare besucht, in denen dazu geraten worden war, die Kinder zu schlagen – «aus Liebe». Das war in diesem Jahrhundert – nicht in einer lang vergangenen Zeit.
Die Angst, falsch zu sein
Lena hat inzwischen Psychologie studiert und ist auf dem Weg, Therapeutin zu werden. Ihre eigenen Gefühle und ihre Geschichte hat sie reflektiert und einen Umgang damit gefunden. Sie habe lernen müssen, «dass es nicht schlimm ist, Fehler zu machen. Dass man sogar Fehler machen muss, um dazuzulernen».
Sie habe in Beziehungen gelernt, dass sie sich mit ihren Gefühlen anderen zumuten darf, «dass es sogar die Beziehung vertieft, wenn ich das tue». Doch davor musste sie ihre Angst überwinden, die ihr tief in den Knochen sass: die Angst, falsch zu sein und abgelehnt zu werden.
Ich glaube, dass Heilung möglich ist.
Körperliche Gewalt kommt auch sonst in der Gesellschaft vor, selbstverständlich ist sie kein rein freikirchliches Phänomen. Das Spezifische an Gewalterfahrung im religiösen Kontext ist, dass diese Erfahrung sich zusammen mit theologischen Lehren quasi in den Körper einschreibt.
Wenn es um die Aufarbeitung geht, dann «rüttelt die betroffene Person zugleich an der Halte-Struktur, die der Glaube ihr gibt», so Natascha Bertschinger. Viele Betroffene verlieren deshalb mit der kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Prägung auch ihren Glauben.
Einen Weg finden – mit Gott und den Eltern
Lena möchte den Glauben an Gott nicht aufgeben. Dieser habe sich aber sehr gewandelt, ebenso ihr Gottesbild. Vieles hinterfrage sie heute, vieles an ihrer Freikirchenprägung sehe sie kritisch. Doch sie habe mit ihren Eltern eine Aussprache gehabt und erlebt die Beziehung als gut.
Es habe ihr geholfen, zu sehen, dass die Eltern auch «Opfer ihres religiösen Systems» waren. Vor allem aber habe sie verstanden, dass «nicht ich das böse Kind war, das es verdiente, geschlagen zu werden. Sondern, dass es meinen Eltern so beigebracht wurde, und sie sich dafür entschieden haben. Die Verantwortung lag bei ihnen – nicht bei mir als Kind».
Lena hat erfahren, dass vieles wieder gut werden kann. Dass negative Erlebnisse durch andere Erfahrungen ein Stück weit «korrigiert» werden können, was die emotionale Entwicklung angeht.
Ganz bewusst sucht sie die Nähe von Menschen, die ihr zeigen, dass sie sie gernhaben. Sie ist überzeugt, dass sie einen Weg finden kann – «mit meinen Eltern, mit mir, mit Gott». Und sie hält fest: «Nicht alles an der Gemeinde war nur schlecht. Gott ist nicht einfach böse. Meine Eltern waren nicht böse. Ich glaube, dass Heilung möglich ist.»