Was, wenn planen plötzlich nicht mehr geht? Wenn praktisch das gesamte Leben sich in den eigenen vier Wände abspielt? Das Coronavirus krempelt unseren Alltag um – und kann auch zur psychischen Belastung werden.
Mariela Jaffé und Rainer Greifeneder vom sozialpsychologischen Institut der Universität Basel über Strategien gegen Stress und die Chance auf neue Strukturen.
SRF: Wir befinden uns in einer Situation, die die wenigsten von uns kennen. Welche Reaktion darauf stellen Sie aus psychologischer Sicht fest?
Rainer Greifeneder: Die Menschen tun sich sehr schwer damit, sich auf die neue Situation einzustellen. Eine Zeitlang haben viele die neue Situation als Hysterie abgetan – zum Teil tun sie es noch immer. Jetzt müssen sich alle auf die neue Situation einlassen. Das dauert.
Normalerweise planen wir so viel wie möglich im Voraus, jetzt aber müssen wir von Tag zu Tag leben. Was bedeutet das für uns?
Rainer Greifeneder: Es ist etwas fundamental Neues für uns, dass sich jeden Tag die Struktur ändern kann und sich plötzlich Dinge ergeben, die niemand von uns für möglich gehalten hätte. Für eine Gesellschaft wie unsere, die sonst von einer extremen Konstanz gekennzeichnet ist, ist das schwer.
Jeder langfristige Plan kann morgen wieder obsolet sein.
Mariela Jaffé: Prinzipiell sind wir Menschen ebenso erfolgreich in der Lage, für die Zukunft zu planen, als auch im Hier und Jetzt zu sein. Aber wenn es Bedrohung, Unsicherheit und Stress gibt, sind wir automatisch eher im Hier und Jetzt. Es fällt uns viel schwerer, für die Zukunft zu planen. Dazu kommt: Die Situation ändert sich jeden Tag. Das heisst, jeder langfristige Plan kann morgen wieder obsolet sein.
Im Hier und Jetzt spielen unsere aktuellen Bedürfnisse eine grosse Rolle: unsere Angst, unser Bedürfnis nach Austausch. Übergeordnete gesellschaftliche Werte spielen dagegen stärker eine Rolle, wenn wir an die Zukunft denken.
Es gibt ein Zitat von Blaise Pascal: «Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.» Es fällt uns schwer, aktuell nichts zu tun, weil wir nicht abgelenkt sind. Und gleichzeitig müssen wir passiv bleiben, damit sich die Situation verbessert.
Rainer Greifeneder: Social Distancing ist nicht das Gleiche wie Nichtstun. Man kann ja in den eigenen vier Wänden auch Sachen tun. Wenn wir die Menschen vor vier Wochen gefragt hätten, ob sie sich danach sehnen würden, zwei Tage lang nichts vorzuhaben und endlich tun zu können, was sie schon längst tun wollten, hätten alle einen Plan gehabt. Insofern würde ich das Social Distancing nicht ganz so negativ sehen.
Andererseits ist es auch klar, dass einen die soziale Isolation auf sich zurückwerfen kann und es die meisten Menschen nicht mögen, über sich selbst nachzudenken.
Denn da gibt es meistens auch Sachen, bei denen man vielleicht nicht den eigenen Idealen entspricht, oder wo man vielleicht nicht den Verpflichtungen nachgekommen ist, denen man nachkommen wollte. Das finden die meisten Menschen nicht besonders toll.
Darum sollten wir trotz Isolation den sozialen Kontakt suchen. Nur weil wir den direkten Kontakt reduzieren oder auf Null fahren sollen, heisst das nicht, dass wir nicht mit den modernen Kommunikationsmitteln dem eigenen Bedürfnis nach Zugehörigkeit nachkommen können.
Es ist zum Beispiel eine riesige Chance, alle anzurufen, mit denen man schon lange nicht mehr gesprochen hat.
Und das führt vielleicht zu positiven Erlebnissen, zum Beispiel zu Gesprächen, die man sonst nicht geführt hätte. Gibt es weitere positive Aspekte der sozialen Isolation?
Rainer Greifeneder: Viele Menschen haben Projekte auf die lange Bank geschoben, sei es nur ein dickes Buch, das sie schon immer lesen wollten. Sollten sie jetzt mehr Zeit haben als vorher, wäre es eine Chance, sich eben dieses tolle Buch, diesen tollen Podcast oder was auch immer einmal vorzunehmen.
Andere Menschen haben aber gar nicht mehr Zeit als vorher. Meine Frau und ich haben zum Beispiel zwei kleine Kinder, um die wir uns parallel zur Arbeit kümmern. Wir haben also weniger Zeit als vorher. Die Frage der Freizeit stellt sich mir also gar nicht ( lacht ).
Aber vielleicht ist auch das eine Chance. Wir als Familie probieren jetzt neue Strukturen aus.
Die Situation ändert sich rasch. Was macht die Unsicherheit mit dem Menschen?
Mariela Jaffé: Unsicherheit und das damit assoziierte Gefühl von Kontrollverlust lösen Stress in uns allen aus. Wir wissen, dass Stress unter gewissen Umständen besonders wahrscheinlich ist: Bei negativen, unkontrollierbaren oder mehrdeutigen Ereignissen – wenn wir also einordnen müssen, was wir nicht kennen.
Ausserdem, wenn wir überbelastet sind, und wenn zentrale Aspekte in unserem Leben betroffen sind. All diese fünf Punkte sind in der momentanen Situation erfüllt.
Kommt daher auch das aktuelle Bedürfnis, sehr viel Information zu konsumieren und zu teilen? Welche Rolle spielen dabei Fake News?
Mariela Jaffé: Menschen wollen in Zeiten von Unsicherheit dem Gefühl des Kontrollverlusts etwas entgegenstellen – zum Beispiel, indem man sich viel informiert und auch andere in Kenntnis setzt. Daher gibt es eine hohe Bereitschaft, alle Information aufzunehmen, selbst wenn diese nicht aus den seriösesten Quellen stammt.
Es hilft, wenn man sich bewusst macht, warum man diese Suche nach Informationen tätigt. Man kann das Bedürfnis nach Kontrolle befriedigen, indem man seriöse Quellen aufsucht. Unseriöse Quellen können langfristig eher zu noch mehr Kontrollverlust führen.
Beeinflusst der Stress auch unser Entscheidungsverhalten?
Rainer Greifeneder: Ja, das kann geschehen. Eine Person unter Stress entscheidet je nachdem stärker affektbasiert und ist unter Umständen nicht mehr in der Lage, Pro und Contra abzuwägen. Zum Beispiel bei einer adäquaten Vorratshaltung.
Was kann man tun, damit man nicht nur seinen Affekten folgt?
Rainer Greifeneder : Das Wichtige ist jetzt, dass sich alle in dieser neuen Situation einfinden und weiter versuchen, möglichst informiert Entscheidungen zu treffen.
Lachen und Optimismus sind nun ganz wichtig.
Mariela Jaffé: Oft orientieren sich Menschen an anderen Menschen – zum Beispiel, wenn sie sehen, dass alle Toilettenpapier einkaufen oder viele noch raus gehen. Wir denken, dass die anderen vielleicht wissen, was wir in dieser Situation tun sollen oder dürfen.
Da sind viele soziale Vergleichsprozesse involviert, die wir automatisch vornehmen. Es ist daher wichtig, einen Schritt zurück zu machen und sich bewusst zu werden: Wahrscheinlich sind fast alle Menschen unsicher.
Sie wissen auch nicht genau, was sie tun sollen und orientieren sich auch an anderen. Es ist nicht immer die beste Strategie, zu schauen, was alle anderen machen.
Stichwort Strategie: Wie können wir gegen den Stress und die psychische Belastung angehen?
Mariela Jaffé: In der Sozialpsychologie spricht man von «coping». Dafür gibt es verschiedene und individuelle Ansätze. Manche Personen gehen das Problem direkt an: Sie konzentrieren sich darauf, lesen Informationen, holen sich etwa Tipps, wie genau sie Gesundheitshygiene ausführen sollen.
Andere versuchen, sich eher abzulenken und diesen Stress zu vermeiden. Wieder andere haben Strategien, die sich um den Umgang mit Emotionen drehen. Sie versuchen zum Beispiel, mit der Angst umzugehen, machen vielleicht zu Hause Yoga oder Entspannungsübungen, schreiben ihre Gedanken auf.
Wichtig dabei: Kein Ansatz oder Vorgehen ist besser als der andere. Jede Person muss für sich selber herausfinden, was hilft und erfolgsversprechend ist.
Rainer Greifeneder: Sowohl durch meine eigene Sichtweise als auch aufgrund der Forschung bin ich überzeugt, dass Lachen und Optimismus ganz wichtig sind. Wenn jetzt alle versuchen, im Alltag Sachen zu finden, die sie zum Lachen bringen, und es sich gut gehen lassen, dann ist das eine gute Sache für die Gesellschaft insgesamt. Es wäre schwierig, wenn wir alle in einen emotionalen Trübsinn verfallen würden.
Ich sehe zudem viele tolle Beispiele von Solidarität in der Gesellschaft – zum Beispiel die Schulkinder, die für ältere Menschen einkaufen gehen. Das ist eine Chance für uns als Gesellschaft, zu sehen, wie stark wir gemeinsam sind, und dass wir auch stärker als dieses Virus sein können.
Haben Sie weitere Tipps, wie man sich in dieser Situation weniger ausgeliefert fühlen kann?
Mariela Jaffé: Was mir als Überlegung hilft: Wir bringen die Ressourcen mit, um eine Krise zu bewältigen. Wir haben alle in unserer Vergangenheit auch schon mal eine schwierige Situation bewältigt, waren vielleicht einmal isoliert oder konnten irgendetwas nicht tun, das wir gerne wollten.
Da kann man überlegen: Was hat mir damals geholfen, was waren damals gute Strategien für mich? So können wir unsere Reaktionen kontrollieren.
Rainer Greifeneder: Das kann man auch gut im Austausch mit anderen tun. Indem man etwa jemand anderem sagt: Das sind doch deine Stärken, das hast du schon mal geschafft, durch die Situation bist du schon mal gegangen – im Wissen, dass die Erinnerung an solche Sachen hilft.
Mariela Jaffé: Die Forschung zeigt auch, dass es bei Unsicherheit und Stress immer als hilfreich erlebt wird, Gefühle und Gedanken zu teilen. Das kann mit anderen Menschen auf technologisch unterstützten Wegen geschehen, es kann aber auch ein Tagebucheintrag sein.
Wichtig ist, dass wir unsere Gedanken und Unsicherheiten in Worte fassen und formulieren, uns austauschen. Wenn wir wissen, es geht nicht nur mir so, sondern auch ganz vielen anderen Menschen, lässt sich dadurch Solidarität, Verbundenheit und Vertrauen aufbauen.
Versuchen wir, in die Zukunft zu schauen. Was macht die Situation mit uns als Gesellschaft in nächster Zeit: Werden sich Strukturen verändern?
Rainer Greifeneder: Wenn die Situation ein, zwei Monate anhält, geht es danach wahrscheinlich wieder zurück zur Normalität. Wenn sie aber vier, fünf Monate anhält, werden sich Strukturen wohl nachhaltig verändern.
Zum Beispiel stellen wir im Moment in unserem Departement fest, dass uns eine Internet-Konferenz-Software Dinge ermöglicht, die wir vorher bei persönlichen Treffen gemacht haben. Vielleicht treffen wir uns zukünftig viel weniger persönlich, weil wir festgestellt haben, wie toll diese Software ist.
Oder zum Beispiel die Schülerinnen und Schülern, die für ältere Personen einkaufen: Wenn man merkt, dass das ein schönes, solidarisches Modell ist, könnte es auch sein, dass es in der Gesellschaft bestehen bleibt.
Sie beschreiben die Veränderung als etwas Positives. Könnte es aber auch sein, dass es ein gesellschaftliches Trauma geben wird?
Rainer Greifeneder: Das kommt darauf an, wie die Situation sich weiterentwickelt. Traumatisch wird es insbesondere dann, wenn viele Personen sterben oder wenn unser Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenze kommt und dramatische Situation entstehen.
Aber momentan denke ich: Wenn sich jetzt alle an die Spielregeln halten und dazu beitragen, dass sich dieses Virus möglichst wenig oder zumindest möglichst langsam ausbreitet, gibt es vielleicht mehr positive als negative Sachen, die sich ändern.
Das Gespräch führte Emilie Buri.