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Zwangsehen in der Schweiz Zwangsheiraten sind verboten – dennoch geschehen sie zu oft

Etwa 350 junge Menschen melden hierzulande jährlich, dass sie zwangsverheiratet wurden oder werden sollen. Eine Juristin erklärt, warum der Kampf dagegen so schwierig ist.

Anu Sivaganesan will Menschen unterstützen, die von einer Zwangsheirat bedroht oder betroffen sind. Die Juristin und Menschenrechtlerin promoviert an der Uni Zürich zu internationalen Verflechtungen von Zwangsverheiratungen und leitet die Fachstelle Zwangsheirat.

Dieses Engagement begann früh und hatte persönliche Gründe: Schon 2001, als Sivaganesan gerade einmal 14 Jahre alt war, gründete sie einen Verein gegen Zwangsheirat mit.

Freundinnen waren während der Ferien in ihrem Herkunftsland, der Türkei, gegen ihren Willen verlobt worden. «Menschenrechte waren schon damals meine Leidenschaft und sind es noch immer», erklärt die Juristin dazu.

Sachlich gegen das Unrecht

Anu Sivaganesans Aktivismus ist nicht laut. Sie tritt überlegt auf, wählt ihre Worte bewusst und argumentiert sachlich. Als Juristin befasst sie sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen. Dabei hat sie aber auch Einzelpersonen im Blick.

Sie erzählt zum Beispiel von einem queeren kosovarischen Mann, den die erzwungene heterosexuelle Ehe so belastete, dass er versuchte, Suizid zu begehen. Ein Freund meldete sich daraufhin bei der Beratungsstelle.

Etwa 20 Prozent der Ratsuchenden – insgesamt rund 350 Personen pro Jahr bei der Fachstelle Zwangsheirat – sind Männer. Manche, aber längst nicht alle, sind schwul. Überwiegend melden sich Musliminnen und Muslime. Doch auch Hindus oder orthodoxe Christinnen und Christen kommen in die Beratung.

Gemeinschaften, die Zwangsheiraten praktizieren, können schnell stigmatisiert werden.

Als Anu Sivaganesan zusammen mit einigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern den Verein gründete, war ihr bewusst, dass das Thema von ausländerfeindlicher Seite instrumentalisiert werden könnte: «Die Betroffenen kommen aus Migrationsfamilien. Gemeinschaften, die Zwangsheiraten praktizieren, können schnell stigmatisiert oder als barbarisch dargestellt werden.»

Im Extremfall Identitätswechsel

Dennoch müsse man Menschenrechtsverletzungen ansprechen, sagt die Juristin: «Wir müssen sachlich darüber sprechen und Lösungen für die Betroffenen suchen.»

Diese Lösung ist nicht leicht zu finden und je nach Person und Gefährdungslage individuell. Im Extremfall tauchen Personen unter. Manchmal bekommen sie sogar eine neue Identität.

Das sei aber sehr selten, meist gebe es andere Lösungen. Der Druck der Herkunftsfamilie sei jedoch oft so gross, dass Betroffene Abstand zu ihr suchten.

Nur 1 Prozent vor Gericht

Als «Ultima Ratio» bezeichnet die Juristin den gerichtlichen Prozess. Für Zwangsverheiratungen besteht in der Schweiz ein Strafmass von fünf Jahren. Das habe Signalwirkung, zeige es doch, dass die Schweiz keine Zwangsheiraten toleriere.

Nur etwa 1 Prozent der Fälle komme vor Gericht.  Das liege daran, dass die Straftat in der Familie passiere. Nur wenige Betroffene wollen jedoch gegen ihre eigenen Eltern aussagen. Einige hätten zudem Angst vor der Verwandtschaft.

Dazu kommt noch ein weiterer Grund: «Betroffene wollen nicht Teil einer Kultur der Strafe sein. Sie wollen ja gerade aus einer solchen aussteigen», sagt die Expertin.

Die Krux mit der Jungfräulichkeit

Die Gründe für Zwangsverheiratungen variieren je nach Hintergrund. Kultur, Religion und Tradition sind dabei eng verbunden. Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten: Oftmals werde der Jungfräulichkeit ein hoher Wert beigemessen – auch im Christentum.

Zudem sollen die Kinder meistens innerhalb der eigenen Gemeinschaft verheiratet werden, um die Tradition weiterzutragen. Das nennt man «Endogamiezwang». Das Ideal: Die Kinder sollen direkt von der elterlichen Familie in die eheliche Familie wechseln, ohne Ausprobieren und ohne freie Partnerwahl. Das sei ein Widerspruch zur freiheitlichen Gesellschaft in der Schweiz.

Das Bewusstsein stärken

Die vielen Anfragen, die die Fachstelle erreichen, wertet Anu Sivaganesan als Erfolg. Das Bewusstsein dafür, dass Zwangsheirat Unrecht ist, steige. Doch es brauche noch mehr Sensibilisierungsarbeit, damit die Zahlen sinken. Wissenschaftlich repräsentative Schätzungen gibt es nicht, nur Erfahrungswerte der Beratungsstellen.

Bereits jetzt sind Standesbeamtinnen und -beamte angehalten, zu prüfen, ob bei der Eheschliessung ein Zwang vorliegen könnte. Migrations-Fachpersonen müssten zum Thema geschult werden, fordert die Juristin. Ausserdem müsse man bei Schulklassen ansetzen. Dadurch liessen sich auch jene Jugendliche erreichen, die sonst von ihren Eltern stark kontrolliert würden.

Auch religiöse Führungspersonen sollten sich bewusst sein, dass Zwangsheiraten Straftatbestand sind, sagt Sivaganesan.

Vorfälle im «Haus der Religionen»

In der Schweiz gelte das «Primat der Ziviltrauung», erklärt Sivaganesan. Dieses besagt, dass religiöse Trauungen erst nach der Ziviltrauung erlaubt sind. Damit beugt der Staat auch der Verheiratung von Minderjährigen vor. Dieses Primat sei vielfach verletzt worden, sagt Anu Sivaganesan. Seit 2015 sei die Missachtung regelrecht «en vogue».

Das zeigten auch die Fälle von Zwangsverheiratungen im Haus der Religionen, die durch die Recherchen von SRF aufgedeckt wurden. Inzwischen gibt es dort einen Verhaltenskodex. Religiöse Führungspersonen müssen sich den Eheschein zeigen lassen, bevor sie eine religiöse Trauung durchführen. Ausserdem hat das Haus der Religionen Anzeige gegen Unbekannt erstattet.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Talk, 14.12.2022, 09:03 Uhr

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