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Zum Internationalen Tag des Mädchens: Blick auf die Zwangsheirat
Aus Kultur-Aktualität vom 11.10.2021. Bild: Imago / Westend61
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Zwangsheirat in der Schweiz «Die Eltern wollen, dass die Töchter jungfräulich heiraten»

Jeden Tag wird in der Schweiz eine Zwangsheirat gemeldet. Betroffen sind meist Mädchen und junge Frauen. Zum Internationalen Mädchentag ein Blick auf eine Fachstelle, die Betroffenen Mut machen und sie unterstützen will.

Zu entscheiden, wen man heiraten will, ist ein Menschenrecht.

Dass dies nicht selbstverständlich ist, musste Anu Sivaganesan, Präsidentin und Juristin der Fachstelle Zwangsheirat, schon früh erfahren: «Ich habe eine gute Freundin, sie wurde in den Ferien mitgenommen und religiös verheiratet.»

Zwangsheirat gegen Sex vor der Ehe

Sivaganesan hat daraufhin 2001 die Fachstelle Zwangsheirat mitgegründet. Die Fachstelle, die zum Thema Zwang in Beziehungen arbeitet, will sensibilisieren, informieren und beraten.

Über 80 Prozent der Betroffenen von Zwangsheirat, arrangierten Ehen und Minderjährigenheirat seien Mädchen und junge Frauen. Der Hauptgrund: die Sexualität.

«Die Eltern wollen, dass ihre Töchter jungfräulich in die Ehe gehen», so Sivaganesan. Sie hoffen, dieser Verantwortung nachzukommen, indem sie die Tochter früh genug verheiraten.

Video
Aus dem Archiv: Zwangsheirat – mitten unter uns
Aus 10 vor 10 vom 05.03.2019.
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Von der elterlichen direkt in die eheliche Familie

Alle Betroffenen haben einen Migrationshintergrund und ein anderes Erziehungsmodell als die Mehrheitsgesellschaft in der Schweiz. Letzteres sei meist durch drei Lebensphasen geprägt: Zuerst die elterliche Erziehung, gefolgt von der Eigenständigkeitsphase. Wir ziehen aus, verlieben uns, Beziehungen gehen vielleicht in die Brüche. In einer dritten Phase schaffen wir dann eigene Lebensentwürfe.

Anders verläuft das für Mädchen, die von einer Zwangsheirat betroffen sind: «Die Personen, die wir beraten, kennen nur die elterliche Familie und dann direkt die eheliche Familie. Die Eigenständigkeit dazwischen wird nicht in der Erziehung mitgegeben.»

Wie ist Zwangsheirat in der Schweiz möglich?

Gemeinschaften, in denen Zwangsheiraten stattfinden, orientieren sich stark an die Familie, an patriarchale Vorstellungen und überkommene Traditionen. Doch wie kann eine Zwangsheirat in der Schweiz vollzogen werden?

«Wir beobachten in letzter Zeit immer mehr solche religiösen, informellen Eheschliessungen vor der zivilen Trauung und Zwangsverlobungen von Minderjährigen», so Anu Sivaganesan. «Viele werden im Ausland verheiratet, wo es möglich ist, unter 18 Jahren zu heiraten.» Später liessen sie die Ehen in der Schweiz anerkennen, das sei rechtlich möglich.

2013 hat der Bund Zwangsheirat unter Strafe gestellt. Doch rechtlich gegen die Familie vorzugehen, ist für viele Betroffene schwierig.

«Manchmal sind die Eltern abhängig von ihren Kindern»

Die Fachstelle unterstützt Betroffene, versucht Ausreisen zu verhindern oder holt sie nach einer Zwangsheirat im Ausland in die Schweiz zurück, um die Ehe aufzulösen. Zentral in der Beratung ist das Empowerment, die Stärkung der betroffenen Jugendlichen. Sie haben eine «bessere Machtausstattung» in Bezug auf Sprache, Bildung und Beruf, meint Sivaganesan.

«Die Jugendlichen sind auf allen Ebenen eigentlich besser als ihre Eltern. Manchmal sind die Eltern abhängig von ihren Kindern. Es gibt eine Umkehrung von Abhängigkeitsverhältnissen. Was das Beratungsteam bei uns versucht, ist, diese Ressourcen positiv für die Freiheit in Bezug auf Eheschliessung oder Partner- respektive Partnerinnenwahl einzusetzen.»

Fachstelle Zwangsheirat

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Die Fachstelle Zwangsheirat bietet kostenlose Beratung und Coaching für Betroffene und Fachpersonen zu Zwangsheirat, Liebesverbot, Heiratszwang, Zwangsehe sowie Zwangsverlobung.

Gratis Helpline: 0800 800 007
Kontakt: info@zwangsheirat.ch

An Schulen sensibilisieren

In rund 90 Prozent der Fälle gelinge es der Fachstelle, dass sich die Betroffenen von ihrer Zwangssituation befreien können. Wichtig sei zudem Sensibilisierung: «Wir haben vor einigen Jahren etwa 700 Schülerinnen und Schüler eine Woche lang Workshops gegeben. Aus dieser Schule hatten wir nachher über 50 Fälle, die sich an uns gewendet haben.»

Die Schule sei ein wichtiger Ort, um potenziell Betroffene zu erreichen. Auch Tage wie den Weltmädchentag am 11. Oktober brauche es, um Betroffenen Mut zu machen. Um ihnen zu zeigen: Es gibt Auswege aus ihrer Zwangssituation.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 11.10.2021, 7:06 Uhr;

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