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Heimat im Wandel der Zeit Heimat ist nicht nur dort, wo man herkommt

Was bedeutet Heimat? Eine Suche im SRF-Archiv liefert ganz unterschiedliche Antworten und zeigt: Mindestens so viel wie mit uns selbst hat Heimat mit «den anderen» zu tun.

«Heimat»: Der Begriff schillert, lebt. Das Wort kommt aus dem Altdeutschen und bedeutet «Stammgebiet». In ihrem Stammgebiet oder Stammesgebiet bleiben heute wohl weniger als früher: Wir reisen in die Ferien, das moderne Berufsleben setzt Ungebundenheit förmlich voraus.

Für viele ist das Leben in der Fremde fast schon ein Stück Heimat. Die Frage nach dem, was «Heimat» ist, ist so alt wie die Menschheitsgeschichte, und die Antworten verändern sich immer wieder.

Heimat als urchiger Gestaltungsraum

Ein Blick ins SRF-Archiv zeigt, wie unterschiedlich der Begriff immer wieder diskutiert wurde. Am 3. Juni 1949 berichtet die Filmwochenschau von einer Aktion, bei der 15'000 Schülerinnen und Schüler befragt wurden, wie sie sich ihre Heimat wünschen.

Hinter der Befragung steht die Schweizerische Vereinigung für Landesplanung, die Schülerinnen und Schüler schicken Bilder und Texte ein. Der Blick ist bei der Aktion nach vorne gerichtet. Vier Jahre nach Kriegsende wird kein Wort über die jüngste Vergangenheit verloren.

Der Begriff «Heimat» ist hier städteplanerisch aufgestellt. Die Kinder sagen, was sie an ihren Dörfern und Städten stört und wie sie ihren Lebensraum, ihre Heimat, lieber gestaltet haben möchten. Da ist von Architektur die Rede, die das «gewachsene Bild» verändere, von «neumodischen Schildern, die das Gesicht der Altstädte stören.»

Mann beim Gärntern neben Modell des Bundeshauses
Legende: Die Heimat gestalten: Ein Gärtner pflegt im «Swissminiatur» die Blumen vor dem Bundeshäuschen. Keystone / ALESSANDRO CRINARI

In den Aussagen der Kinder sind  deutlich die Eltern zu hören. Der einzig Glückliche scheint ein Tessiner Knabe mitten in seinem Stammesgebiet zu sein, weitab jedweder Modernität. Was Heimat ist, bleibt im Beitrag ungefragt.

Wem gehört die Heimat?

Die 1950er- und 1960er-Jahre sind gekennzeichnet vom Wirtschaftswunder und der Zuwanderung sogenannter Gastarbeiter. Der Angst vor der «Überfremdung» und dem «Schutz der Heimat» gibt Nationalrat James Schwarzenbach mit seiner Initiative ein Forum. 1970 wird sie knapp abgelehnt: Das Volk stimmt gegen die Ausweisung von 350'000 Fremdarbeitern.

Der Heimatbegriff beginnt sich darüber zu definieren, was und wer nicht dazugehört. Viele Menschen sind «Gast» in der Schweiz und werden es bleiben. Sie sind zwar da, bleiben aber draussen.

Heimat als Auftrag

In einem Beitrag der Sendung «Schauplatz» aus den 1980er-Jahren sitzt Bundesrat Willi Ritschard mit seinen Enkeln vor der Haustür in der Sonne und sagt: «Heimat kann man nicht am Heimatbrief festmachen.» Heimat sei da, «wo man sich verstanden fühlt, wo man geborgen ist.»

Heimat sei auch ein Auftrag, sagt Ritschard: «Heimat muss man machen.» Ritschard gibt eine sehr persönliche Definition, keine politische. Das geografische, politische Stammesgebiet wird ausgeblendet.

Die Welt wird Heimat

Zwei Jahre später sagt der Schriftsteller Hugo Lötscher, sein Briefkasten sei zwar in Zürich, er habe aber mehr als eine Heimat. Die ganze Welt sei seine Heimat. Der Begriff «Heimat» beginnt sich von einem geografischen Gebiet abzulösen. Sprache könne Heimat sein: Muttersprache statt Vaterland.

Anlässlich der Jubiläumsfeier 700 Jahre Eidgenossenschaft 1991 wird wieder viel über Heimat und Stammesgebiet geredet. Bei einem Picknick auf dem Rütli unterhält sich ein Bundesrat mit Künstlerinnen und Künstlern. Das macht die Politik gerne, wenn es um Werte geht.

Der Tenor des Gesprächs: Es sei schwierig, die Kultur einer Heimat als ausschliessend zu definieren und den Begriff «Heimat» als absolut zu setzen.

In den 1990er-Jahren wird der Begriff «Heimat» mit Modernität aufgeladen. Traditionen werden in Frage gestellt: «Gehört Jodeln zur Heimat?» Während man vorher gefragt hat, wer nicht in die Schweiz gehört, lautet die Frage nun: «Was von der Schweiz gehört nicht zur Heimat?»

Modernität und Heimatbegriff

Um die Jahrtausendwende löst sich der angestammte Heimatbegriff weiter auf. Er wird nicht mehr automatisch und ausschliesslich mit dem Land und dem Volk, das hier geboren wurde, verbunden.

In den 2010er-Jahren arbeiten in Schweizer Firmen Menschen aus über 150 Nationalitäten. Sind sie Teil der Schweizer Heimat? Fühlen sie sich zugehörig?

Kann man eine Heimat verlieren?

Heimat ist intellektuell schwer greifbar. Das Gefühl scheint eher zu wissen, was und wo Heimat ist. Vor ein paar Jahren beobachtete ich bei einem interkulturellen Projekt in Basel folgende Szene: Ein 12-jähriges Mädchen aus Srebrenica sagt: «Heimat ist da, wo ich keine Angst haben muss.» Ein kleine Tamilin übersetzt das für ihren Vater. Beide nicken.

Männer schiben Modellhäuser auf einem Wagen durch einen Park
Legende: Die Schweiz verändert sich – und mit ihr die Vorstellung davon, was Heimat ist. Keystone / GABRIELE PUTZU

Ein anderes Mädchen steht dabei und beginnt zu weinen. Ihre beste Freundin sei nach den Ferien nicht mehr in die Schule gekommen. Sie sei in ihrer Heimat verheiratet worden. Und wenn Heimat heisse, keine Angst zu haben, dann habe ihre Freundin jetzt alles verloren. Auch ihre Heimat.

Gibt es die alte Heimat wirklich?

Viele, die in der Fremde leben, vermissen die alte Heimat. Bei manchen bleibt sie als Sehnsuchtsraum erhalten. «Irgendwann gehen wir wieder zurück», hört man dann. Es ist beinahe so, als gebe es einen Zwischenraum zwischen der alten Heimat, die weit weg ist und der neuen, die (noch) keine ist.

Kleine Figürchen in Appenzellertracht gehen mit Kühen durch eine Strasse
Legende: Gibt es die Heimat, die wir uns vorstellen, wirklich? Alpaufzug im Modell-Appenzell im «Swissminiatur». Keystone / KARL MATHIS

In diesem Zwischenraum richtet man sich ein, vorübergehend. Das kann viele Jahre dauern: Freunde erzählen mir von einem italienischen Paar, das viele Jahre in Basel lebte und irgendwann in sein Dorf in Apulien zurückgehen wollte. Eines Tages begeben sie sich tatsächlich auf die Rückreise. Das Paar löst alles auf und geht.

In Apulien merken sie, dass die Familie grösstenteils gar nicht mehr dort ist. Freunde sind weggezogen oder verstorben, die Zeit ist nicht stillgestanden. Vieles hat sich verändert, die alte Heimat war ein Trugbild. Die beiden sind  fremd zurückgekehrt.

Ein Jahr später stehen sie wieder im St.-Alban-Viertel und finden das ehemals Fremde so vertraut, so schön, dass sie erkennen: Eigentlich ist das unsere Heimat.

Ist Heimat dort, wo die Wurzeln sind?

So geht es auch manchen Protagonistinnen und Protagonisten in der DOK-Serie «Meine fremde Heimat». Sie versammelt Lebensgeschichten von denen, die die Wurzeln woanders haben und irgendwann zu diesen zurückgehen.

Der Mann, der als Adoptivkind in der Schweiz aufgewachsen ist, sucht in Kolumbien die leiblichen Eltern. Er erkennt, wie fremd er in dieser Heimat ist und wie wenig er am Schluss die leiblichen Eltern noch finden will. Seine Wurzeln sind vielleicht dort, aber die gelebte Heimat ist ganz woanders.

Familie als Heimat

Ab den 2010er-Jahren rückt die persönliche Beziehungsebene mehr und mehr in den Fokus. Es geht immer weniger darum, ob man ein altes Gebiet verlassen hat und in einem neuen lebt.

Internationale Paare rücken in den Vordergrund. Der Heimatbegriff scheint immer mehr mit Liebe und Familie verbunden. Davon erzählt die DOK-Serie «Hin und weg».

All diese Menschengeschichten widerspiegeln ein Leben zwischen zwei Welten. Überaus spannend ist an diesem Punkt die Serie «Mini zwei Dihei» von SRF Kids. Der Titel ist Programm: Alle, die hier erzählen, haben mehr als eine Heimat.

In zwei Heimaten, nicht dazwischen

Bei «Mini zwei Dihei» erzählt eine Generation sehr junger Menschen, wie sie nicht zwischen zwei Heimaten, sondern mit zwei Heimaten leben. Sie reden wie selbstverständlich mehrere Sprachen, und genauso selbstverständlich sprechen sie von der Familie im einen und im anderen Land.

Die Kinder erzählen, wie gerne sie ihre Familie haben und wie wenig zerrissen sich manche von ihnen fühlen. Es ist einfach so: Heimat ist hier wie dort. Heimat ist Familie, auch wenn sie in unterschiedlichen Ländern lebt.

Bei Freunden daheim

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich stark verändert, was in der Schweiz und anderswo als Heimat verstanden wird. Der Begriff ist vielfältiger und komplizierter geworden. Heute hat Heimat weniger mit Geografie zu tun und mehr mit den Menschen, die uns umgeben.

In unserer globalisierten Welt mit hoher Mobilität ist Heimat für viele heute da, wo die Familie ist, wo Beziehungen sind und man geliebt wird, unabhängiger vom Ort als noch vor einer Generation.

Die Frage, ob Familie schon Heimat ist, lässt sich auch umkehren: Kann es Heimat ohne Familie, ohne Beziehungen geben?

SRF 1, Kulturplatz, 4.5.2022, 22:25 Uhr.

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