Bei den meisten Jägerinnen und Jägern ist die Jagd Familiensache. Der Urgrossvater war schon Jäger, der Vater und seine Brüder ebenso – und dann wird man es selbst. Bei Nicole Vogel ist es anders: «Ich bin eine Quereinsteigerin und habe bei null angefangen», erzählt die 48-Jährige.
Nicole Vogel ist Informatikerin, sie stammt aus der Region Basel und wohnt heute im solothurnischen Kienberg auf dem Land. Zurzeit macht sie bei einer Jagdgesellschaft im Kanton Baselland die Ausbildung zur Jägerin. Es sind vor allem ökologische Motive, die sie dazu bewegt haben. «Ich habe erkannt, dass sich ein grosser Teil der Jagd um den Naturschutz dreht», sagt sie.
Unterschiedliche Menschen entdecken das Jagen
Damit steht Nicole Vogel für einen Trend. «Wir stellen fest, dass viele Leute ohne direkten Zugang zur Jagd sich fürs Jagen interessieren, unter ihnen viele Städter und bedeutend mehr Frauen», sagt David Clavadetscher, Geschäftsführer des Dachverbandes Jagd Schweiz. «Das tut der Jagd gut, und es ist erfreulich, dass über die Jagd viele Menschen den Zugang zur Natur finden.»
Clavadetscher sieht dabei Parallelen zum Urban Gardening oder dem Stadtimkern mit Bienen auf Dachterrassen: «Die Möglichkeit, 100-prozentig ökologisches Biofleisch selbst zu ernten, zu wissen, woher das Tier kommt und wie es aufgewachsen ist – das macht die Jagd attraktiv.»
Die Jagd ist ein Handwerk. Ein grosser Teil davon besteht aus Planen, Vorbereiten und Warten, und nach dem präzisen Schuss die Nachbereitung. Jagd ist mit vielen Pflichten zur Hege und Pflege verbunden: Schäden ausbessern, die die Wildschweine auf den Wiesen hinterlassen. Salzlecken auffüllen, Waldränder und Hecken pflegen.
Ein Jäger nach alter Tradition
Thomas Jäggi ist 57 und jagt seit über 20 Jahren in einer reinen Männer-Jagdgesellschaft im Solothurner Jura. Für ihn hat das jagdliche Handwerk oberste Priorität.
Jäggi bezeichnet sich als traditionsverbunden und «eher konservativ». Er ist stark in der Solothurner Juralandschaft verwurzelt, wo er in dritter Generation ein Bergrestaurant führt. Als gelernter Koch und Metzger verarbeitet er sein geschossenes Wild und auch dasjenige anderer Jäger in der eigenen Metzgerei.
Wie Nicole Vogel geniesst es Thomas Jäggi, auf der Jagd die Natur zu erleben. «Allein auf dem Hochsitz kannst du deinen Gedanken nachgehen, gleichzeitig siehst du immer etwas Interessantes», erzählt er. «Sei das eine Maus, einen Buntspecht oder vielleicht gar den Rehbock, den du dir herbeigesehnt hast.»
Der legitime Beutetrieb
Doch das Naturerlebnis oder gar der Naturschutz ist für ihn nicht Sinn und Zweck der Jagd. «Es gibt die Zeit des Beobachtens – und es gibt die Zeit der Jagd, und dann willst du Beute machen.»
Das ist völlig legitim: Das Schweizer Jagdgesetz bezweckt unter anderem, «eine angemessene Nutzung der Wildbestände durch die Jagd zu gewährleisten.»
Nicole Vogel hat einen anderen Zugang zur Jagd: Ihr geht es vor allem um den Natur- und Tierschutz. «Früher war ich eine typische Outdoor-Sportlerin», erzählt sie. «Ich war schon immer gerne im Wald oder in den Bergen, beim Wandern, Biken, Campen und Kanufahren.»
Für ein ökologisches Gleichgewicht
Als angehende Jägerin lerne sie den Wald nun ganz anders kennen. Sie entdecke auf einmal Dachs- und Fuchsbauten, sie könne die Fährten der Wildtiere lesen – oder erkenne, wenn sich Rehe an jungen Bäumen gütlich getan hätten.
«Im Gegensatz zu einem gezüchteten Nutztier führt ein Wildtier ein glückliches und stressfreies Leben.» Dafür will sich Nicole Vogel als Jägerin einsetzen: Es brauche ein ökologisches Gleichgewicht zwischen den Wildtieren und ihren Habitaten. «Wir als Jäger tragen zu diesem Gleichgewicht bei, indem wir die Wildbestände regulieren.» Sie habe jedoch keinen ausgeprägten Beutetrieb, Trophäen sagten ihr nichts.
Bis hierher sind sich die angehende Öko-Jägerin und der traditionelle Altjäger grundsätzlich einig, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven: Die Jagd dient dazu, die Lebensräume und die Artenvielfalt von Wildtieren zu erhalten und zu schützen.
Gleichzeitig sollen «die von wildlebenden Tieren verursachten Schäden an Wald und an landwirtschaftlichen Kulturen auf ein tragbares Mass» begrenzt werden. So steht es ebenfalls im Schweizer Jagdgesetz.
Streitpunkt Wolf
Trotzdem driften die Welten von Nicole Vogel und Thomas Jäggi teilweise auseinander. Das zeigt sich etwa in der Haltung zu den Grossraubtieren, konkret zu Luchs und Wolf. «Für mich ist es schön, dass Luchs und Wolf zurückkehren», sagt Nicole Vogel. «Sie sind Teil der Natur, und als Raubtiere helfen sie mit, die Wildbestände zu regulieren.»
Allerdings, auch das betont Nicole Vogel, bringe der Wolf vermehrt Probleme mit sich. Sie verstehe etwa die Wut geschädigter Bergbauern im Bündnerland. «Das führt zu Konflikten, die wir lösen müssen», sagt sie.
Thomas Jäggi hingegen sieht den Wolf prinzipiell als problematisch an. Er hätte es begrüsst, wenn das Stimmvolk das neue Jagdgesetz von 2020 angenommen hätte, das den Schutz des Wolfes und anderer Grossraubtiere lockern wollte.
«Der Wolf lässt einen Jäger zwar nicht kalt, denn er ist ja der Urhund – der Vorfahre unserer Jagdhunde», sagt Thomas Jäggi. Aber es sei wohl «die Menge», die es ausmache, ob Wölfe tragbar seien oder nicht.
Für Thomas Jäggi ist jedoch klar: «Einen Wolf-Befürworter würde ich in den eigenen Reihen nicht dulden.» Er könne sich auch nicht vorstellen, dass solche Ideen im Namen der Ökologie in anderen Jagdgesellschaften gut ankämen. Und: «Eine Jagdgesellschaft hat immer noch das Recht, ‹Nein› zu sagen, wenn sich jemand nach bestandener Jagdprüfung um Aufnahme bewirbt.»
Gut möglich also, dass «neue» Jägerinnen und Jäger mit ihren ökologischen Idealen die traditionelle Jagd nicht so schnell aufmischen werden. David Clavadetscher von Jagd Schweiz meint dazu: «Mit dem Zugang zur Jagd von jungen, urban geprägten Menschen wird sich die Jagd beleben, verändern und anpassen an die heutige Zeit. Doch das heisst nicht, dass man alle Traditionen über Bord schmeissen muss.»
Erst der Schuss, dann die Verarbeitung
An einem Punkt jedoch vereinen sich die beiden Welten, und zwar in der Fleischfrage: Ein getötetes Tier soll «genutzt» werden.
Thomas Jäggi serviert in seinem Restaurant Gamspfeffer und Rehschnitzel, «vom Wirt selbst erlegt». Dazu Spätzli und Rotkohl, wie es sich für ein traditionelles Wildgericht gehört.
«Wild zu verarbeiten und damit anderen eine Freude zu bereiten, das ist für mich etwas sehr Befriedigendes», sagt er.
Ein bewusster Fleischkonsum
Viele Öko-Jägerinnen und -Jäger umtreibt vor allem das Thema Selbstversorgung. Nicole Vogel erzählt: In ihrer Jagdschule hätten drei junge Männer einen Schrebergarten gemietet, um ihr eigenes Gemüse und Obst zu produzieren.
Das habe die drei auch zur Jagd gebracht: «Sie finden, wenn man schon Fleisch isst, ist es das Ehrlichste, ein Tier selbst zu erlegen und zu verarbeiten. Es geht ihnen darum, die Verantwortung fürs Töten zu übernehmen.»
Nicole Vogel selbst isst kein Fleisch, sie ist seit 30 Jahren Vegetarierin. Doch vielleicht bleibt sie das nicht: «Wenn ich dann einmal meinen eigenen Bock geschossen habe, kann ich mir durchaus vorstellen, von diesem Fleisch zu probieren.»
Für Nicole Vogel ist es wichtig, sofern ein Tier nicht krank ist, das Wildbret zu verwerten. «Damit das Tier nicht vergebens gestorben ist.»