«Und das soll Kunst sein?» Diese Frage haben schon manche Betrachterinnen und Betrachter eines Werkes von Joseph Beuys gestellt. Fettbeschmierte Stühle, mit Filzdecken und Stablampen beladene Schlitten: Solche Objekte irritieren.
Der deutsche Bildhauer, Zeichner und Performancekünstler gilt heute als einer der einflussreichsten Künstler des späten 20. Jahrhunderts. Er war und ist zugleich einer der umstrittensten. Seine Arbeiten riefen oft Spott und Ablehnung hervor – oder wurden gar nicht erst als Kunst erkannt.
Der Irrtum mit der Badewanne
Legendär ist etwa die Geschichte um die Kinderbadewanne, die offiziell «unbetitelt (Badewanne)» heisst. Beuys hatte sie mit Heftpflastern und Mullbinden in ein Objekt verwandelt. Die Wanne stand in einem Seitenraum in Schloss Morsbroich bei Leverkusen, wo sie für eine Ausstellung zwischengelagert war.
Als der SPD-Ortsverein Leverkusen-Alkenrath im November 1973 auf Schloss Morsbroich ein Fest feiern wollte, entdeckten zwei Frauen die vermeintlich schmutzige Wanne und schrubbten sie sauber, um Gläser darin zu spülen.
Die Badewannen-Geschichte sorgte damals weit über die deutschen Grenzen hinaus für Spott.
Stadtverwaldung als Pionierarbeit
Nicht nur mit seinen rätselhaften Objekten irritierte Beuys seine Zeitgenossen. Auch mit grossen Aktionen rief er bei vielen Menschen Unverständnis hervor.
Zum Beispiel mit dem 1982 für die documenta 7 entwickelten Projekt «Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung», für das Beuys in Kassel 7000 Eichen pflanzen liess.
Kunst, die in kein Museum passt
Für Philip Ursprung, Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich, ist «Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung» wegweisend. Er hat soeben eine neue Beuys-Biographie veröffentlicht und sagt über das Projekt in Kassel: «Diese Bäume kann man nicht sammeln oder besitzen. Sie sind dem Kunstsammelbetrieb entzogen worden und für alle nutzbar. Damit betrat Beuys Neuland.»
Beuys wollte Kunst machen, die nicht nur in Museen oder Sammlungen vermögender Menschen hängt. Kunst war für ihn ein Mittel, um aktiv auf die Gesellschaft, die Politik und die Umweltpolitik einzuwirken.
Welche Verantwortung trägt die Kunst?
«Aus heutiger Sicht ist Beuys Werk ja auch interessant, weil es fragt, wie Kunst politisch wirksam sein kann. Welche künstlerischen Verfahren können dazu beitragen, die Politik zu verändern? Das hat stark damit zu tun, welche Verantwortung die Kunst gegenüber der Gesellschaft und der Umwelt hat», so Philip Ursprung.
Mit dieser Haltung war Joseph Beuys nicht alleine. Er nahm Ideen verschiedener Kunstströmungen auf. Wie die Künstlerinnen und Künstler der «Arte Povera» arbeitete Beuys mit einfachen Materialien: Fett, Filz, Honig.
Und wie die Fluxus-Bewegung wollte Joseph Beuys, dass Kunst nicht nur aus Bildern und Skulpturen besteht, sondern auch aus Aktionen und Diskussionen.
«Erweiterter Kunstbegriff» hiess das bei Beuys. Er war eine charismatische Figur, die diese Ideen bündeln und ihnen ein Gesicht verleihen konnte.
Der erweiterte Kunstbegriff
Beuys brachte Themen in die Kunst, die damals aktuell waren – und es noch heute sind: Das Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen und sozialen Umwelt, die Verletzlichkeit der Ökosysteme, und die Verantwortung, die jeder einzelne für Natur und Gesellschaft trägt.
Zu Beuys' «erweitertem Kunstbegriff» gehört auch der Gedanke, dass jeder Mensch ein Künstler sei. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Bilder malen oder Gedichte schreiben soll. Sondern: Jeder soll das Leben, die Gesellschaft, die Welt mitgestalten. Jede und jeder ist mitverantwortlich.
Nachhaltige Stadtbegrünung
Auch in diesem Sinne ist «Stadtverwaldung statt Stattverwaltung» beispielhaft. Beuys hat mit dieser Aktion etwas geschaffen, das nachhaltig ist: Die 7000 Eichen liess man nach dem Ende der Aktion stehen.
Sein Beitrag zur documenta 7 war also auch ein Beitrag zur Stadtbegrünung Kassels. Ein Thema, das nach den heissen Sommern der vergangenen Jahre bei Stadtplanerinnen und Stadtplanern immer noch aktuell ist.
Der Künstler als Raumplaner
Nicht nur in Kassel wollte Beuys mit seinen Arbeiten in Prozesse der Raumentwicklung eingreifen. In Hamburg-Altenwerder plante er 1983, die sogenannten «Spülfelder» umzugestalten. Altenwerder, ein ehemaliges Fischerdorf, war 1973 zwangsentsiedelt und abgerissen worden.
Auf einem Teil des Gebiets wurde ausgebaggerter Schlick aus der Elbe abgelagert, der mit Schwermetallen belastet war und das Grundwasser verunreinigte.
Ist das noch Kunst?
Beuys wollte einen Basaltstein über der Schlickhalde abwerfen und sie mit schnell wachsenden Pflanzen von einer «Todeszone» in eine «Kunstzone» verwandeln.
Das Projekt rief heftige Debatten hervor: Darf oder soll die Kunst sich in politische Prozesse einmischen? Schliesslich entschied der damalige Erste Bürgermeister Hamburgs: «Das ist keine Kunst!» Damit war das Projekt gestorben.
Künstler und Bundestagskandidat
Joseph Beuys war davon überzeugt, dass Kunst sich einmischen soll. Er selbst versuchte auf vielen Ebenen, auf Politik und Gesellschaft einzuwirken – auch auf parteipolitischer: Er gehörte 1980 zu den Mitbegründern der Partei «Die Grünen» und kandidierte im Januar 1983 sogar als Bundestagskandidat.
Allerdings zog er seine Kandidatur wieder zurück, weil er nicht als einer der Spitzenkandidaten gelistet war. Seine aktive politische Mitarbeit endete da. Dennoch blieb er bis zu seinem Tod 1986 Parteimitglied.
Türöffner für Schweizer Kunstschaffende
Mit seinem Engagement für Umwelt, Gesellschaft und Politik, aber auch mit seiner Arbeitsweise und seinem «erweiterten Kunstbegriff» hat Beuys für viele nachkommende Künstlerinnen und Künstler Türen geöffnet – auch in der Schweiz.
Prominentestes Beispiel ist Thomas Hirschhorn , der sich dezidiert an ein «nicht-exklusives Publikum» richtet. In seinen Projekten arbeitet der gebürtige Berner, der mittlerweile in Paris lebt, stets mit Menschen aus dem jeweiligen Ort zusammen.
Die Gesellschaft mitnehmen
Zum Beispiel im Rahmen der «Robert Walser-Sculpture»: Auf dem Bahnhofplatz Biel baute er 2019 eine grosse Plattform, auf der Bielerinnen und Bieler 86 Tage Lesungen, Aktionen und Diskussionen mitorganisierten. Das «nicht-exklusive Publikum» ist Teil des Projekts.
Der Künstler als Dienstleister
Themen aufgreifen, die die Gesellschaft betreffen und diese Gesellschaft dabei gleich mitnehmen, das macht auch San Keller . Der in Zürich lebende Künstler geht in Aktionen wie «San Keller demonstriert mit Ihrer Botschaft in New York» sogar soweit, dass er den Künstler zum Dienstleister macht: Der Künstler bestimmt zwei Städte. In der einen Stadt wirbt er für das Angebot «San Keller demonstriert mit Ihrer Botschaft», in der anderen Stadt demonstriert er mit den eingereichten Botschaften.
Die Auftraggeber können die Botschaft und die Demonstrationsdauer bestimmen und bezahlen San Keller einen Minutentarif und eine Pauschale für ein Video, das sie dazu erhalten.
Nachhaltige Kunst dank Beuys
Umweltfragen sind heute – auch in der Schweiz – für viele Kunstschaffende zentral.
Der Westschweizer Künstler Julian Charrière etwa nimmt einen Schlitten, der an einen der Inuit erinnert, belädt ihn mit in Blei gegossenen Kokosnüssen und lässt das Konstrukt halb im Boden versinken. So, als breche der Schlitten unter dem Druck des Klimawandels zusammen.
Wenn der Basler Künstler Klaus Littmann 300 Bäume im Klagenfurter Fussballstadion anpflanzt, ist das nicht nur gut fürs lokale Klima. Es erinnert auch an die 7000 Eichen, die Beuys in Kassel gepflanzt hat.
Die Bündner Künstlerin Ester Vonplon filmt die Planen, mit denen Gletscher abgedeckt werden, um ihr Abschmelzen zu verhindern und macht daraus bedrückende Videos.
Blues für den Gletscher
Das Gletschersterben beschäftigt auch den Berner Künstler George Steinmann . In seinem Video «Glacier Blues», das 2015 entstand, sitzt er auf dem Rhonegletscher.
Dort spielt er den Blues, um seine tiefe Betroffenheit und Trauer angesichts des Zustandes der Natur auszudrücken. Wie Beuys glaubt Steinmann an die Verantwortung der Kunst und will die Gegenwart mitgestalten – und das nachhaltig.
Als die Kunsthalle Tallin in Estland ihm ein Ausstellungsprojekt anbot, liess er mit dem Projektgeld die marode Kunsthalle mit ökologisch wertvollen Materialien restaurieren.
Ein Meister der Selbstinszenierung
George Steinmann ist Joseph Beuys mehrfach begegnet, unter anderem an der documenta 7. Steinmann hat diese Begegnungen als anregend in Erinnerung. Aber nicht nur: «Beuys Selbstinszenierung hat mich abgestossen.»
Joseph Beuys war eben auch ein Profi in Sachen Selbstvermarktung. Ihm war bewusst: Wer die Welt verändern will, muss erst mal gesehen werden. Auch da wusste er, wie es geht.