Zum Inhalt springen

Header

Zur Übersicht von Play SRF Audio-Übersicht

Ausstellung in Bern Darum sind Menschenmassen besser als ihr Ruf

Das Museum für Kommunikation in Bern erkundet in der Ausstellung «Massen – Foules – Crowds» menschliches Verhalten. Eine Schau jenseits der Klischees.

Massen haben keinen guten Ruf. Das liege zum einen an manipulativen Anführern, sagt Astrid Aron, Kuratorin der Cité des Sciences et de l’Industrie in Paris, die die Ausstellung mitverantwortet. Grauenvoll wirkte sich dies in der Nazi-Diktatur aus. Zum anderen habe der Pionier der Massenforschung Gustave Le Bon 1895 im Buch «Psychologie der Massen» viel Unsinn verkündet: Massen seien dumm, irrational und kritiklos.

«Im späten 19. Jahrhundert bekam die Elite Angst vor der Bevölkerung», erklärt sie. Die konservativen Machtträger fürchteten sich vor der Arbeiterbewegung. Doch Massen sind vielschichtiger.

«Wir brauchen die Masse», sagt Aron, «das hat man während der Beschränkungen wegen Covid gesehen». Das Gemeinschaftsgefühl sei wichtig: Wir wollen nicht allein sein, zusammen etwas erleben. Jacqueline Strauss, Direktorin des Museums für Kommunikation, erwähnt die Stimmung an einem Spiel der Fussball-EM der Frauen in Bern und bemerkt: «Gegen alle Befürchtungen tragen die Menschen Sorge zueinander, wenn sie in der Masse sind.»

Aron bestätigt, dass Menschen meist fürsorglich miteinander umgehen. Die Forschung habe das am Verhalten der Betroffenen bei den Anschlägen in Paris im November 2015 festgestellt. Keine Panik wie im Katastrophenfilm, sondern gegenseitige Hilfe.

Wenn es eng wird

Das Hauptproblem einer Menschenmasse ist physikalisch: ihre Dichte. Ab vier Personen pro Quadratmeter wird es ungemütlich, ab neun droht Lebensgefahr. Schwere Unfälle drohen – wie an der Love-Parade in Duisburg 2010, an der Wallfahrt in Mekka 2015 und an der Halloween-Feier in Seoul 2022.

Diese Katastrophen hätten sich vermeiden lassen, wenn die Organisatoren Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung berücksichtigt hätten: Fluchtwege freihalten; Laufwege ohne Kreuzungen, Engpässe und Hindernisse gewährleisten; den Zutritt beschränken.

Zu den Bewegungen von Menschen bei unterschiedlichen Dichten ist etwa ein Video mit einem Physiker zu sehen: In der Masse verhalten sich Menschen wie Getreidekörner oder Moleküle in einer Flüssigkeit. Wird die Menge zu dicht, können sie deren wellenförmige, unwillkürliche Bewegungen nicht beeinflussen und sind immensen Kräften ausgeliefert.

10 Verhaltenstipps in Menschenmassen

Box aufklappen Box zuklappen

Aus der Ausstellung «Massen – Foules – Crowds»:

  1. Ich suche am Veranstaltungsort die Ausgänge, bevor ich mich in der Menge verliere.
  2. Ich verlasse den Veranstaltungsort frühzeitig. Ich gehe dabei in Richtung weniger überfüllter Bereiche.
  3. Ich versuche, aufrecht stehenzubleiben und ziehe auch andere nicht nach unten.
  4. Ich achte darauf, dass ich immer atmen kann.
  5. Wenn ich Druck spüre, platziere ich meine Arme mit angewinkelten Ellbogen vor der Brust.
  6. Ich folge den Bewegungen der Menge. Die Kräfte sind so gross, dass ich dagegen keine Chance habe.
  7. Ich halte mich von Mauern, Zäunen und Pfosten fern.
  8. Ich beurteile laufend die Dichte der Menschenmenge um mich herum.
  9. Wenn Panik ausbricht und Bewegung in die Menge kommt, steigt die Gefahr. Ich entferne mich in aller Ruhe und halte Abstand von der Menge.
  10. Ich verhalte mich solidarisch: Ich biete meine Hilfe an und achte darauf, niemanden zu Fall zu bringen.

Auch in der digitalen Sphäre tummeln sich Massen. Hier vernetzen sich auch soziale Bewegungen wie #metoo und #BlackLivesMatter. Oder neulich die Petition ans Schweizer Parlament für Gelder, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Hunderttausende von Unterschriften in kürzester Zeit.

Online werden 99 Prozent der Nachrichten von weniger als fünf Personen geteilt. Falschinformationen verbreiten sich viel schneller und länger als faktenbasierte Posts.

Schwarmwissen

Und doch: «In der Masse ist man intelligenter. Das zeigt sich im Schwarmwissen», sagt Strauss. In der Wissenschaft ermöglicht der Schwarm breite Datengrundlagen, etwa in der Sprach- und Sozialforschung. In der Ausstellung kann man die Zahl der Murmeln in einem Glaszylinder schätzen. Strauss: «Eine grosse Menge von Menschen erreicht ein genaueres Ergebnis als wenige Einzelpersonen.»

Playmobilmännchen in Masse aus Vogelperspektive fotografiert.
Legende: Eine Masse von Playmobilmännchen wuselt im Museum. Museum für Kommunikation / Digitale Massarbeit

Abgesehen von einer skeptischen Haltung gegenüber politischen Massen kann man aus dieser Ausstellung auch mitnehmen: Wir mögen uns noch so individualistisch vorkommen, wir sind Teil der Gesellschaft – und auf andere angewiesen. Angesichts dessen sind etwas Demut und Bescheidenheit sicher nicht falsch.

Ausstellungshinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Die Ausstellung «Massen – Foules – Crowds» im Museum für Kommunikation Bern ist noch bis 19. Juli 2026 zu sehen.

Lesehinweise

Box aufklappen Box zuklappen

Die Schau regt an, auch zu weiterführender Lektüre.

  • Elias Canetti: «Masse und Macht» (1960). Fischer, 36. Auflage, 1980.
  • Sigmund Freud: «Massenpsychologie und Ich-Analyse» (1921). Reclam, 2025.
  • Mehdi Moussaïdi: «Fouloscopie. Ce que la foule dit de nous» (2019). J’ai Lu, 2021. (Französisch, keine deutsche Übersetzung bekannt)

Radio SRF2 Kultur, Kultur-Aktualität, 12.12.2025, 7:06 Uhr

Meistgelesene Artikel