Bereits im Vorfeld der documenta in Kassel gab es eine breite Diskussion um möglichen Antisemitismus in den ausgestellten Kunstwerken. Nach dem offiziellen Presserundgang zum documenta-Start wurde ein riesiges Stoffbanner-Bild des indonesischen Underground-Kollektivs Taring Padi aufgehängt, das eindeutig antisemitische Motive zeigt.
Es folgten massive Proteste – die documenta-Leitung sah sich gezwungen zu handeln: Am Montagabend wurde das Banner zunächst verhüllt, am Dienstag dann abgehängt. Am Donnerstag nun hat sich das kuratierende Kollektiv für die antisemitischen Darstellungen auf der Weltkunstschau entschuldigt.
Noch vor diesen Ereignissen hat der deutsche Kunstkritiker Carsten Probst die Debatte eingeordnet.
SRF: Die Documenta-Leitung erklärte, das Banner sei wegen nötiger Reparaturarbeiten erst nach dem Pressetermin aufgehängt worden. Was halten Sie von dieser Begründung?
Carsten Probst: Das ist eine schwache Begründung. Diese Panne hätte dem indonesischen Kuratorenkollektiv die Chance gegeben, das Aufhängen des Bildes zu verhindern.
Das Kollektiv und die documenta-Geschäftsführung wussten, dass an der Pressebesichtigung Journalistinnen und Journalisten nach problematischen Inhalten Ausschau halten. Es gab beinahe einen Wettlauf nach dem Motto: «Wer findet zuerst das Corpus Delicti?»
Das Banner ist 20 Jahre alt und bezieht sich auf den indonesischen Bürgerkrieg. Deshalb sei es auch nicht antisemitisch, so das Kollektiv. Ein Schwein mit einem «Mossad»-Helm ist aber auch in einem anderen Kulturkreis ein antisemitisches Motiv?
Natürlich ist es für die interkulturelle Betrachtung von Werken zentral, dass wir den kulturellen Kontext, die politischen Umstände und die historische Zeit miteinbeziehen.
Dennoch ist der Ausstellungsort Kassel. Seit Jahren ist das Kollektiv Ruangrupa zur Vorbereitung in Deutschland. Sie zeigen auf der documenta kuratorisch hochsensible Verbindungen. Sie wissen, dass man solche Motive hierzulande nicht einfach so stehen lassen kann.
Nach langem Zögern hat die deutsche Kulturstaatsministerin erklärt, es sei antisemitische Bildsprache. Wie geht es weiter bei der documenta?
Das Banner wird abgehängt werden müssen. Diese documenta beruht auf Vertrauen.
Das leitende Kollektiv Ruangrupa hat einige der Akteure eingeladen und ihnen finanziell und organisatorisch die Lizenz erteilt, weitere Akteure einzuladen.
Das Kuratorenkollektiv weiss, dass man solche Motive hierzulande nicht einfach so stehen lassen kann.
Das funktioniert nur, wenn sich alle über bestimmte Grundregeln klar sind. Der einladende Charakter dieser documenta ist durch so eine Aktion und die laschen Begründungen, die dann auch nachgeliefert wurden, zerstört worden.
Es gibt Stimmen, die meinen, mit der jetzigen Diskussion sei der angestrebte Nord-Süd-Dialog der Documenta bereits gescheitert. Was glauben Sie?
Der Nord-Süd Dialog ist elementar für Europa. Wir dürfen die spezifisch deutschen Befindlichkeiten nicht über alles stellen. Dieser Dialog muss weitergehen. Es geht um viel mehr als nur um die Frage nach der historischen deutschen Schuld.
Man darf andererseits nicht den Fehler machen und in alte Vorurteile zurückfallen. Menschen aus muslimisch geprägten Ländern sind nicht automatisch alles Israel-Feinde. Das ist eher die Argumentation der neuen Rechten in Deutschland.
Was Kunst darf und was nicht ist kulturell geprägt. Es ist nicht überraschend, dass dieser angestrebte Dialog Verwerfungen deutlich macht. Wer setzt die Grenzen: die deutsche Politik oder die documenta-Leitung?
Was Kunst darf und was nicht, ist nicht als Gesetz vom Himmel gefallen. Die ganze Moderne steht seit der Aufklärung in Europa vor schweren Kontroversen. Kunst findet da statt, wo diese Konflikte im Unbewussten der Gesellschaften schon schlummern. Sie fördert eigentlich deren Energien zutage. Das ist ihr grosser Vorteil.
Aber wir haben es hier mit der Documenta mit einem grossen Ausstellungsvorhaben zu tun. Es überrascht nicht, dass Werke in politische Diskussionen hineingeraten. Deswegen wäre es umso wichtiger, die Sensibilität hochzufahren und solche Unfälle zu vermeiden – wenn es denn ein Unfall war.
Das Gespräch führte Michael Sennhauser.