Julian Charrière persönlich zu treffen ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Obwohl der Westschweizer in Berlin lebt, waren es 2016 nur wenige Wochen, in denen er sich in seiner Wahlheimat aufhielt. Diese Wochen verbrachte er meist in seinem Atelier, einem grossen, vollen Raum mit hohen Decken in einer alten Malzfabrik in Berlin Schöneberg.
Wie im Naturkundemuseum
Als ich Charières Atelier besuche, ist er wieder einmal unterwegs für seine Kunst, in Kanada.
Es sind mehrere Räume, die sich Charrière in Berlin mit seinem Freund und Künstlerkollegen Julius von Bismarck teilt. Einige Skulpturen stehen im Raum, halb verpackt und schon fast auf dem Weg zu einer Ausstellung. Es sind dunkle Gesteinsbrocken, ausgestellt in würfelförmigen Glasvitrinen, gleich einem wertvollen Stück im Naturkundemuseum.
Die Gesteinsbrocken erzählen eine Geschichte, wie sie Julian Charrière liebt, wie sie typisch ist für seine Arbeit. Die Brocken bestehen aus geschmolzenem Elektroschrott.
Die Geologie von Elektroschrott
Charrière schmolz dafür Elektroschrott in unter Hitze verflüssigtem Gestein ein. Wie ein Geologe machte er sich dann in den Trümmern dieses neuen hybriden Gesteins auf die Suche nach den spannendsten Brocken: krustige «Fossilien der Zukunft», aus denen Drähte ragen oder an deren Oberfläche sich verformte Überreste von Festplatten und Computerchips finden.
Charrière initiiert so einen Kreislauf: Elektronische Geräte, deren metallene Komponenten zuvor aus der Erde gewonnen wurden, dienen dem Menschen zur Kommunikation oder zur Unterhaltung. Dann gehen sie kaputt, werden ausrangiert und zu Schrott degradiert. Durch enorme Hitze und zerstörerische Kraft werden sie dann wieder zu Gestein.
Dem Künstler gelingt es mit seiner Kunst, dass man sich über sein eigenes, oft so unreflektiertes Verhalten Gedanken macht. Dass man ein iPhone oder einen Fernseher mit anderen Augen betrachtet. Zu gerne wüsste ich, wie der offensichtlich sehr wissenschaftlich geprägte Geist Charrières den Weg in die Kunst gefunden hat.
Die Skypeverbindung steht
Zu einem Gespräch, bei dem ich meine Fragen loswerden kann, kommt es allerdings erst nach meinem Besuch in seinem Atelier in Berlin. Einige Monate später ist Charrière wieder in Berlin. Nur für kurze Zeit, um mal wieder nach dem Rechten zu sehen. Vor seiner Antarktis-Reise.
Trotz Muttersprache Französisch ist Charrières Hochdeutsch perfekt und trägt bisweilen Einschläge der «Berliner Schnauze».
SRF: Wie war deine Reise? Du warst in Kanada, oder?
Julian Charrière: Ja, also es waren ja mehrere Reisen. Zweimal war ich auf dem Fluss in Colorado und in Alaska, und dann in Kanada. Dort ist aber einiges schiefgelaufen. In Kanada gibt es das älteste Gestein der Welt, davon wollte ich einen Block haben. Das mit dem Rausfräsen hat auch alles geklappt, aber irgendwie krieg ich das Teil nicht nach Deutschland. Ich muss gleich nochmals versuchen, jemanden dort drüben zu erreichen.
Also voll im Stress?
Ja, unglaublich. Ich schlafe momentan im Atelier, etwa drei Stunden pro Tag. Ich habe so viele Projekte gleichzeitig am laufen. Und dann kommen all die Sachen dazu, die während meiner Abwesenheit passiert sind und die ich jetzt alle aufs Mal bearbeiten muss.
Aber das macht dir doch auch Spass, oder?
Auf jeden Fall. Ich würde nichts anderes machen wollen. Nur manchmal, wenn mal wieder alles drunter und drüber geht, beneide ich die Menschen, die morgens ins Büro gehen, abends rauskommen und dann Dinge für sich tun, Freizeit haben. Bei mir ist das alles eine Masse: Arbeit ist Freizeit – und umgekehrt. Meine Arbeitskollegen sind meine besten Freunde.
Viel Stress, wenig Schlaf, ein kompliziertes Sozialleben: Klingt nicht gerade nach Traumjob?
Naja, doch, irgendwie ist er das schon. Vor allem auch, weil ich in meiner Arbeit so viele tolle, spannende Menschen kennenlernen darf. Aber klar, anfangs war ich mir nicht ganz sicher, ob ich mir das antun möchte. Bei mir wars so: Kunst hat mich immer interessiert. Aber ich fand auch Naturwissenschaften spannend, und Architektur.
Auch während des Kunststudiums hier in Berlin lag mein Weg noch nicht ganz klar vor mir. Ich habe viel gefeiert, Partys organisiert und wollte einen Club aufmachen. Aber dann wurde ich im Institut für Raumexperimente der Berliner Uni der Künste aufgenommen und lernte Olafur Eliasson kennen. Dort wusste ich dann sehr schnell, wo ich hin will. Durch den intensiven Kontakt mit ihm wurde mir klar, dass ich diese geistige und kreative Freiheit in meinem Leben brauche.
Geistige Freiheit ist ja schön und gut, aber man muss ja davon auch leben können.
Ich hatte das grosse Glück, dass ich schon während des Studiums eine Galerie hatte. Olafur fand das zwar anfangs nicht so toll. Er meinte, ich sei dann weniger frei. Aber für mich bedeutete das mehr Raum und Zeit für meine Kunst. Ein Werk zu verkaufen brachte gleich viel Geld wie einen Monat an einer Bar hinterm Tresen zu stehen.
Momentan scheint es bei dir ja auch recht gut zu laufen?
Eigentlich ja. Also momentan nicht, weil ich so viele Menschen beschäftigen muss, die mir bei meinen Projekten helfen und die ich ja alle anständig bezahlen muss. Aber doch, normalerweise passts ganz gut. Ich kann nicht sparen, aber ich kann gut von meiner Arbeit leben.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Kunst, 9.6.2013.