«Ein wildes Gekritzel von Kindern», «Das ist Kunst und kann trotzdem weg» oder «Krakeldebakel»: Die Titel machenden deutschsprachiger Medien liessen ihrer Fantasie freien Lauf, nachdem vergangenen Dezember ein Foto des neuen Vereinslokals des Winterthurer Fussballvereins FC Tössfeld an die Öffentlichkeit gelangt war.
Darauf zu sehen: ein weisser Raum mit unzähligen blauen Linien und Formen an den Wänden und der Decke. Hier ein Fussballschuh, da ein Pokal, dort ein Fussballspieler. Martin Zgraggen, der Vereinspräsident des FC Tössfeld zeigte sich in einem SRF-Interview hörbar vor den Kopf gestossen. Die Stadt Winterthur habe ihn nie in die Auftragsvergabe dieses Kunstwerkes involviert.
Anfang als Auftragsarbeit
«Ich wusste nicht, ist das jetzt wirklich das Kunstwerk, oder wurde da zwischenzeitlich noch Vandalismus betrieben», sagt Martin Zgraggen. Aus diesem Grund wollte man prüfen, ob man Teile des Kunstwerkes übermalen oder es gar ganz entfernen lassen könne. Sogar im Winterthurer Stadtparlament wurde darüber gesprochen.
Die beiden Künstlerinnen und Schwestern Stefanie und Maureen Kägi verstanden wiederum die Aufregung nicht. Sie führten ein Kunst-und-Bau-Projekt durch, mit dem sie die Stadt Winterthur beauftragt hatte. Ein Kunstgremium hatte sich für das besagte Werk «Circuit Flow» entschieden und den Entstehungsprozess eng begleitet.
«Uns war es wichtig, diese Energie und Dynamik des Fussballs zu transportieren. Das, was auf dem Spielfeld passiert. Deshalb haben wir auch diese expressive Geste gewählt. Das wollten wir in die Malerei aufnehmen, genau wie die Kontroversen und Spannungen, die im Fussball nun mal da sind», sagt die Künstlerin Maureen Kägi.
Schuss geht nach hinten los
Nicole Kurmann, die Leiterin des Bereichs Kultur der Stadt Winterthur, erklärt, warum man sich gerade für diese Arbeit entschieden habe. «Irgendwo in einer Ecke ein Kunstwerk aufzustellen, kam nicht infrage. Uns interessierte, welche Art von Kunst sich in einem so unruhigen Umfeld behaupten kann.»
Doch statt Lob für die Künstlerinnen hagelte es Kritik von allen Seiten. Die Aufregung über das 28'000 Franken teure Werk war so gross, dass sogar Medien aus dem Ausland die Geschichte übernahmen.
Französische, tschechische, rumänische, ägyptische oder auch US-Medien berichteten darüber. Sogar in der Ukraine und in Russland sorgte das Vereinslokal des FC Tössfeld für Schlagzeilen. Auf Social Media ging das «verkritzelte» Vereinslokal viral.
Anfeindungen gegen die Künstlerinnen
Doch damit nicht genug: Die Story und das Foto landeten auf ultranationalistischen Plattformen, und die beiden Künstlerinnen bekamen Dutzende Mails aus der ganzen Welt. Einige Reaktionen waren positiv, die meisten jedoch negativ – sexistischer Natur, beleidigend und gar drohend.
«Es gab ganz üble Beschimpfungen. Dass wir Huren seien, dass wir aus so einem reichen Land seien, was uns eigentlich einfalle und so weiter. Meine Schwester und ich hatten auch Angst, weil man es einfach nicht einschätzen kann, was noch passiert», erinnert sich Maureen Kägi.
Öffentliche Kunst meist umstritten
Warum erregt also öffentliche Kunst dermassen die Gemüter? Sogar jener, am anderen Ende der Welt, die in ihrem Alltag gar nicht damit konfrontiert sind? Was ist überhaupt die Idee von Kunst und Bau und Kunst im öffentlichen Raum?
Es liegt in der Natur der Sache, dass es bei öffentlicher Kunst zu Auseinandersetzungen kommt.
Ronny Hardliz ist Experte für öffentliche Kunst. Er sagt, die Kontroverse um das Kunst-und-Bau-Projekt in Winterthur sei nicht aussergewöhnlich. Aussergewöhnlich sei, dass es dermassen in die Öffentlichkeit getragen wurde. Und dass es global viral ging.
«Es liegt in der Natur der Sache, dass es bei öffentlicher Kunst zu Auseinandersetzungen kommt. Und die Auseinandersetzung ist ein Teil der Kunst und des künstlerischen Entstehungsprozesses.» sagt Ronny Hardliz.
Zeitfaktor entscheidend
Für den Kunst-und Bau-Experten ist der Faktor Zeit zentral. Die Geschichte hat gezeigt, dass Werke, die in der Gesellschaft zu Beginn für Entrüstung sorgten, mit der Zeit liebgewonnen und irgendwann sogar zum Identifikationsmerkmal wurden.
Zum Beispiel der Engel von Niki de Saint Phalle im Zürcher Hauptbahnhof. Als dieser vor 25 Jahren in der Bahnhofshalle aufgehängt wurde, war der Aufschrei gross. Eine der Schlagzeilen lautete etwa: «Überdimensioniertes Sennentuntschi mit Flügeln». Heute kann man sich die Zürcher Bahnhofshalle fast nicht mehr vorstellen, ohne den bunten Engel.
Ronny Hardliz nennt auch den Meret Oppenheim Brunnen in Bern, der 1983 errichtet wurde: «Es gab sehr viele Leserbriefe in den Zeitungen, die eine sofortige Entfernung forderten. Dieser gleiche Brunnen ist heute interessanterweise den Bernerinnen und Bernern sehr ans Herz gewachsen. Er ist ein fester Bestandteil des Berner Stadtbildes geworden.»
Kosten für öffentliche Kunst überschaubar
Ein Grund für die anfängliche Aufregung bei Kunst im öffentlichen Raum sind aber nicht nur die Ästhetik oder die Bevormundung, sondern auch die Kosten. So hat etwa eine SVP-Initiative im Nachgang zum Zürcher Hafenkran dafür gesorgt, dass Hafenkräne in der Zürcher Innenstadt künftig verboten sind.
Dabei sind die Kosten, die für neue Kunst-und-Bau-Projekte zur Verfügung stehen, im Vergleich mit den Gesamtkosten gering: Rund 1 Prozent der Bausumme steht in der Regel für ein Kunst-und Bau-Projekt zur Verfügung. Wenn ein neues Gebäude einer Gemeinde oder eines Kantons also vier Millionen Franken kostet, dann stehen für ein Kunstwerk rund 40'000 Franken zur Verfügung.
Zukunft des Kunstwerks weiter offen
Beim Kunstwerk «Circuit Flow» im Vereinslokal des FC Tössfeld lagen die Kosten bei 28'000 Franken. Ebenfalls eine vergleichsweise kleine Summe für ein Kunst-und-Bau Projekt. Und: Die Summe war nicht nur Honorar für die beiden Künstlerinnen. Damit mussten sie die Entwürfe bezahlen und die gesamten Materialkosten decken.
Was mit dem Kunstwerk geschehen soll, wird sich dieses Jahr zeigen. So lange möchte man dem Werk Zeit geben. Nicole Kurmann vom Bereich Kultur der Stadt Winterthur sagt, man habe aus der Geschichte gelernt und wolle in Zukunft die Nutzerschaft noch mehr in den Entstehungsprozess eines Kunst-und-Bau-Projektes miteinbeziehen.
Kommt Zeit, kommt Rat
Die Künstlerinnen Maureen und Stefanie Kägi können der ganzen Geschichte trotz der heftigen Reaktionen auch Positives abgewinnen. Sie wollen die Kontroverse irgendwie künstlerisch aufnehmen und weitertragen.
Martin Zgraggen, der Vereinspräsident des FC Tössfeld sagt, man werde die Reaktionen der Besucherinnen und Besucher des Klublokals genau beobachten. Wenn es für Irritationen sorgen sollte, wird das notiert und beim nächsten runden Tisch in einem Jahr präsentiert.
Doch der Faktor Zeit hat auch bei Martin Zgraggen schon ein klein wenig gewirkt: Auf die Frage, ob es möglich ist, dass er in einem Jahr sagt: Hey, dieses Kunstwerk ist ein Teil unserer Geschichte und wir möchten es auf keinen Fall weggeben, sagt er: «Es kann sein, dass wir in diese Richtung kippen, das will ich nicht abstreiten, das ist aber zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer vorstellbar.»