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Künstlerin Ingeborg Lüscher «Schulthess wollte herausfinden, was die Welt zusammenhält»

Ende der 60er-Jahre hörte Ingeborg Lüscher erstmals von Armand Schulthess, einem Aussteiger in den Tessiner Wäldern. Die Künstlerin machte sich auf die Suche nach dem Einsiedler – und fand ihn tatsächlich.

Mit ihrem Buch «Dokumentation über A.S.» hielt sie Schulthess’ Werk fest, bevor es 1972/73 zerstört wurde. Dieses Jahr gab sie das Buch erneut heraus – angereichert um neue Erkenntnisse über den Eremiten.

Ingeborg Lüscher

Künstlerin

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Ingeborg Lüscher (*1936) ist eine deutsch-schweizerische Malerin, Fotografin, Konzept-, Video- und Installationskünstlerin. Seit 1967 lebt und arbeitet sie im Kanton Tessin.

SRF: Die Begegnung mit Armand Schulthess war prägend für ihr Leben, sagen Sie. Weshalb?

Ingeborg Lüscher: Mein ganzes Leben wäre ohne ihn völlig anders verlaufen. Dass ich ihn im Onsernonetal tatsächlich fand, wirkt im Rückblick wie ein Wunder auf mich.

Schulthess lebte seit 1951 zurückgezogen im Wald und hat dort ein Gesamtkunstwerk erschaffen. Sie haben ihn gesucht. Warum?

Ein Bekannter hat mir von Schulthess und seinem Wald erzählt. Von tausenden funkelnden Metallplättchen, auf die das Wissen der ganzen Welt notiert sei. Das hat in meinem Kopf ein solches Feuerwerk an Bildern und Vorstellungen ausgelöst, dass ich wusste: Ich muss ihn finden. Und das habe ich tatsächlich.

Er hat für seinen Wald gelebt. Alles andere war zweitrangig.

Was hat Sie an ihm fasziniert?

Schulthess wollte herausfinden, was die Welt zusammenhält. Er suchte den Schlüssel des Lebens, den grossen Zusammenhang. Ich fand in ihm einen Menschen mit einer Vision! Wann passiert einem das schon? Er hat für seinen Wald gelebt. Alles andere war zweitrangig.

Sie haben Kontakt zu Armand Schulthess gefunden. Was hat er Ihnen erzählt?

Ich habe Bruchstücke aus seinem Leben erfahren. Etwa, dass er seine erste Frau nur dank seines eleganten Pariser Mantels kennengelernt hat.

Einmal erzählte er mir von den Damenkonfektionsgeschäften, die er in seinem früheren Leben betrieben hatte. Dass es ihm in der Weltwirtschaftskrise oft an Geld mangelte und er schliesslich in der Berner Bundesverwaltung landete. 

Schwarzweissbild: Mann und Frau in einem Wald, er zeigt ihr etwas in einem Buch
Legende: Ingeborg Lüscher war einer von wenigen Menschen, die Kontakt zu Armand Schulthess fanden. Edizioni Galleria Periferia

Hat er Ihnen auch erzählt, warum er aus diesem Beamtenleben ausgestiegen ist?

Nein, dazu weiss ich nichts. Man konnte ihn nicht befragen. Er hat erzählt, was er wollte. Oft ging es auch um Preisvergleiche: Was kostet ein Kilo Reis im Migros oder im Coop?

Armand Schulthess war menschenscheu. Er hatte eigentlich nur zu Ihnen Kontakt. Warum gerade Sie?

Das weiss ich nicht. Ich habe mich sehr um ihn bemüht. Und ich habe eine Mutprobe bestanden, die er mir gestellt hat. Einmal stellte er sich direkt an einen Felsabhang und forderte mich auf, dasselbe zu tun. Ich tat es und konnte vor Angst kaum atmen.

Erst viel später habe ich realisiert, dass das für ihn genauso gefährlich war wie für mich. Dann trat Schulthess zurück, hob am Wegrand ein verschrumpeltes Äpfelchen auf, steckte es in seine Hosentasche und sagte: «Man soll immer etwas Nützliches tun!»

Hat diese Mutprobe etwas verändert?

Es war eine Art Initiation. Ich suchte sein Vertrauen. Also wollte er überprüfen, ob ich umgekehrt auch ihm vertraue.  

Ich finde seine Radikalität inspirierend.

Sie haben eine erweiterte Neuauflage ihres Buchs über Schulthess herausgegeben. Welche Aktualität hat Schulthess heute noch?

Er lebte wie ein Einsiedler, ganz isoliert, so wie wir das in diesen Coronazeiten auch tun. Aber neben dieser Parallele finde ich vor allem seine Radikalität inspirierend. Aussteigen, alles riskieren, um die eigene Idee umzusetzen … Ich glaube, davon können wir alle ein Stückchen gebrauchen.

Das Gespräch führte Ellinor Landmann.

Buchhinweis

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Ingeborg Lüschers legendärer Fotoband «Dokumentation über A.S.» (1972) ist in einer Neuauflage mit dem Erweiterungsband «Dokumentation über Armand Schulthess» im Verlag Edizioni Periferia erschienen (2021).

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 14.12.2021, 09:03 ; 

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