Kino: Listig und lustig
- Der beste Film: «The Power of the Dog» von Jane Campion
Bis diesen Sommer war Jane Campion die einzige Gewinnerin einer Goldenen Palme von Cannes. Im Zentrum ihrer Filme stehen Frauenfiguren, das war schon bei ihrem ersten Langfilm «Sweetie» von 1989 so. Im Spätwestern «The Power of the Dog» geht es nun um einen Mann: Campion lässt ihre subtile Gefühls-Archäologie der von Benedict Cumberbatch gespielten Männerfigur angedeihen. Dass ihr das gelingt, ist Campions beeindruckender Souveränität zuzuschreiben. Der Film ist nicht nur prächtig, er ist auch human listig und dramatisch lustig.
- Lobende Erwähnung: «Das Mädchen und die Spinne» von Silvan und Ramon Zürcher
Um alles und nichts dreht sich dieses perfekt durchkomponierte Ende einer WG. In der Choreografie all dieser Abschiede und Sehnsüchte jubelt die Offenheit des Möglichen. Der Film der Berner Brüder macht glücklich.
- Die Enttäuschung: «Cry Macho» von Clint Eastwood
Das hätte ein starker Eastwood-Post-Western werden können, hätte der 91-Jährige daran gedacht, dass er 45 Jahre nach Entstehung des Drehbuchs nicht mehr in die Hauptrolle passt.
Michael Sennhauser
Serien: Ein Remake macht Lust auf eine Wiederentdeckung
- Die beste Serie: «Cowboy Bebop»
Popkultur, die mich zu längst vergessener Popkultur führt, ist rar. Deshalb ist «Cowboy Bebop» meine Lieblingsserie. Die Science-Fiction-Geschichte über eine Gruppe Kopfgeldjäger hat mich dazu gebracht, die Anime-Vorlage von 1998 nochmals anzuschauen. Eine echte Wiederentdeckung, die Spass gemacht hat. Coole Charaktere, überraschende Storys, Filmzitate aus «Alien», «2001: A Space Odyssey» und dem Film Noir. Und dann der Soundtrack der japanischen Band Seatbelts: eine intelligent eingesetzte Mischung aus Pop-, Jazz- und Countrysongs.
Das Original und das Remake von «Cowboy Bebop» gibt es bei Netflix.
- Lobende Erwähnung: «White Lotus»
Reiche Egomanen in einem Luxusresort: Die HBO-Serie «White Lotus» ist Krimi, Soap und Gesellschaftssatire in einem.
«White Lotus» ist in der Schweiz bei Sky zu sehen.
- Die Enttäuschung: «Hellbound»
Zum Vergessen: Die koreanische Serie «Hellbound» mit mies animierten Monstern und pseudo-tiefschürfendem Geschwafel. Ja, Südkorea produziert gutes Zeug, aber nicht jede Serie ist «Squid Game».
«Hellbound» läuft auf Netflix.
Enno Reins
Literatur: Ein weises Werk
- Das beste Buch: «Vom Aufstehen» von Helga Schubert
Gewiss, man soll das Adjektiv «weise» nur sparsam einsetzen. Bei «Vom Aufstehen» der 81-jährigen Autorin Helga Schubert ist es für einmal angebracht. In literarisch meisterhaft komponierten Erzählungen rekapituliert die Deutsche ihr Leben, das geprägt war von Weltkrieg, Flucht und Vertreibung, sowie später von der DDR-Diktatur. Aber auch von einer Mutter, welche die Tochter bis ins hohe Alter ablehnte. Am Ende jedoch – und dies ist das Bezaubernde an diesem Buch – findet die Autorin den Weg zur Vergebung. Und dadurch zu innerem Frieden.
Helga Schubert: «Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten.» dtv, 2021.
Felix Münger
- Lobende Erwähnung: «Matou» von Michael Köhlmeier
Michael Köhlmeier fasst in seinem knapp tausendseitigen Roman klug und unterhaltsam 230 Jahre Geistesgeschichte zusammen. Er tut dies aus der Sicht eines Katers, der seine sieben Leben mit einigen Exponenten dieser Epoche verbringt und sich dabei immer die eine grosse Frage stellt: Was ist der Mensch?
Michael Köhlmeier: «Matou». Hanser, 2021.
Michael Luisier
- Die Enttäuschung: «Murakami T» von Haruki Murakami
Haruki Murakamis gesammelte T-Shirt-Geschichten müffeln schweissig abgehangen. Vermutlich wollte der Autor Zeit und Waschpulver sparen und mit seinen aufgebügelten Erinnerungsstücken husch-husch seine Kasse füllen.
Haruki Murakami: «Murakami T». Dumont, 2021.
Annette König
Kunst: Mal politisch brisant, mal ohne Vision
- Die beste Ausstellung: «A Black Hole is Everything a Star Longs to Be» im Kunstmuseum Basel
Ein Jahr nach George Floyds Ermordung zeigt die US-amerikanischen Künstlerin Kara Walker Zeichnungen und Skizzen eines tief gespaltenen Landes. Seit über zwanzig Jahren arbeitet Walker mit Klischees der Rassentrennung von erniedrigten Sklaven bis zu sadistischen Herrschern. In Anbetracht der anhaltenden Polizeigewalt gegenüber People of Colour werden diese Skizzen zu einem erneuten Aufschrei gegen die Spaltung der Gesellschaft anhand der Hautfarbe. Eine selten aktuelle Ausstellung mit politischer Brisanz, eingebettet in einen historischen Kontext.
- Lobende Erwähnung: «Natures Mortes» im Palais de Tokyo, Paris
Sprungtürme ohne Wasserbecken, Barrikaden aus Glas und Beton und unterirdische Gänge, die immer tiefer zu den Helden der Kunstgeschichte führten. Was Anne Imhof aus dem roh belassenen Palais de Tokyo gemacht hat, ist umwerfend verführerisch und gleichzeitig kalt und abstossend.
- Die Enttäuschung: Art Basel
Wie geht es weiter mit den Kunstmessen? Trotz Covid und Klimawandel sind keine grossen Visionen in Sicht. Das muss sich ändern.
Stefan Zucker
Theater: Grandios auf der Bühne und im Stream
- Das beste Theaterstück: «Einfach das Ende der Welt» am Schauspielhaus Zürich
Ein Zwanzigjähriger haut ab in die Grossstadt, um sein Leben als Schwuler und Künstler zu leben. Jahre später kommt der verlorene Sohn todkrank zurück, um mit der Familie zu reden. Es geht schief, was schief gehen kann – respektive wie es seine Richtigkeit hat. Regisseur Christoph Rüping und sein grandioses Ensemble arbeiten die neurotischen Ambivalenzen und die ausweglose Einsamkeit mit Unbarmherzigkeit heraus, in der hier alle gefangen sind – und dies coronabedingt in zwei eigenständigen, gleichwertigen Versionen, mit Kopräsenz auf der Bühne und vor der Kamera im Livestream.
- Lobende Erwähnung: Bühnen Bern
Unter neuem Namen und mit neuem Team starten die Bühnen Bern in eine neue Ära und etablieren ein Erzähltheater von heute. Ein grosses Versprechen, das sich in der ersten Saisonhälfte aufs Schönste einlöst.
- Die Enttäuschung: #allesdichtmachen
Eine grosse Zahl teilweise namhafter Fernseh- und Theaterschauspielerinnen und -Schauspieler aus dem gesamten deutschsprachigen Raum liess sich in der Aktion #allesdichtmachen vor den Desinformationskarren spannen.
Andreas Klaeui
Jazz: Schwindelerregend, aber mit Bodenhaftung
- Das beste Album: «Live at Electric Lady Studios» von Jon Batiste
Kühn, herausfordernd und groovig zugleich: Das Album zeigt Jon Batiste als Jazzmusiker im besten Sinne. Er ist ein kantiger und genialer Pianist, verfremdet seine Stimme beim Singen, tönt mal wie der wahre «King of Pop» Prince, dann wieder wie ein in der Wolle gewaschener Bebopper. Mit diesen Zutaten von Miles über Mahavishnu bis Motown kann es einem schwindelig werden, die Bodenhaftung verliert man trotzdem nicht.
«Live at Electric Lady Studios» von Jon Batiste ist ausschliesslich auf Spotify zu hören.
- Lobende Erwähnung: «Dear Love» von Jazzmeia Horn and Her Noble Force
Auf ihrem dritten Album stellt sich Ausnahmetalent Jazzmeia Horn vor eine hochkarätige Big Band. Mit eigenen Stücken, die sie eigens arrangiert hat, serviert sie genial auch Themen, die weh tun.
Jazzmeia Horn and Her Noble Force: «Dear Love». Empress Legacy Record.
- Die Enttäuschung: «Road to the Sun» von Pat Metheny
Was haben wir Pat Metheny immer gefeiert! Als jungen Gitarrengott, als Überflieger in den grossen Stadien, als grossartigen Komponisten. Nur von der «Road to the Sun», auf der er sich in klassischer Gitarrenmusik versucht, hebt er nicht ab. Und die klassischen Interpreten seiner Stücke bleiben im Nebelloch stecken.
Pat Metheny: «Road to the Sun». Modern Recordings.
Jodok Hess
Klassik: Ein Freudenfest für die Sinne
- Das beste Konzert: Philharmonia Zürich im Stadtcasino Basel
Lange wollte sich dieses Konzertgefühl nicht mehr einstellen, diese Mischung aus Herzklopfen, Überraschung und Glücksgefühl. Umso erstaunter war ich, als es quasi vor meiner Haustüre in Basel geschah: Mit der Philharmonia Zürich und ihrem neuen Chef Gianandrea Noseda. Dvoraks Achte und Brahms' erstes Klavierkonzerte standen auf dem Programm. Beim ersten Orchestereinsatz war die Gänsehaut da: Was für ein Klangfarbenreichtum im Orchester, wie subtil seine Begleitung. Der Solist Daniil Trifonov gestaltete Brahms fesselnd mit magischem Anschlag. Nicht zu reden von Dvorak: Ein Freudenfest für alle Sinne!
Annelis Berger
- Lobende Erwähnung: «Forward Festival»
Das Lucerne Festival hat im November zum ersten Mal das Festival für neue Musik «Forward Festival» vorgestellt. Das Experiment ist teilweise noch nicht ganz ausgereift. Aber: Grossartig, wie die junge Musikszene versucht, der Unbill des Lebens mit Kunst beizukommen.
Annelis Berger
- Die Enttäuschung: «Amata dalle tenebre» von Anna Netrebko
Kochen kann Anna Netrebko. Zumindest ist ihr Kochbuch anregend und vielseitig. Die neue CD hingegen offenbart vor allem eines: ein einförmiges Vibrato, schlimmer als zu viel Monoglutamat. Selbst beim Kochen nicht zum Zuhören zu empfehlen.
Anna Netrebko: «Amata dalle tenebre». Deutsche Grammophon.
Benjamin Herzog
Architektur: Eine Schweizer Meisterleistung in Duisburg
- Die beste Architektur: Küppersmühle Duisburg
Die Basler Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron wissen, wie man mächtige Backsteingebäude in aufsehenerregende Kulturhäuser verwandelt. In Duisburg haben die beiden Basler eben die Erweiterung der Küppersmühle abgeschlossen. In einem ersten Umbauschritt haben sie die alte, ziegelrote Mühle samt Getreidespeicher in ein Museum umgebaut und nun mit einem Anbau ergänzt. Die neue Ziegelfassade schliesst nahtlos ans Industriedenkmal an, im Innern überzeugt eine Abfolge von 35 hohen, weissen Ausstellungsräumen mit schmalen Schlitzen für Türen und Fenstern. Eine Meisterleistung.
- Lobende Erwähnung: Kopfbau Halle 118 auf dem Lagerplatz Winterthur
Auf dem Lagerplatz in Winterthur hat das Baubüro In Situ eine Lagerhalle um drei Stockwerke aufgestockt und dafür gebrauchte Bauteile verwendet. Das spart 60 Prozent CO2-Emissionen und schafft architektonisch eine attraktive Bricolage.
- Die Enttäuschung: Erweiterungsbau Kunsthaus Zürich
Mit dem beige schimmerndem Recyclingbeton und viel Messing hat der britische Architekt David Chipperfield einen raffinierten Parcours an Räumen entworfen. Doch die puristische-elegante Big Box, die nahtlos übergeht in den versiegelten Belag des Trottoirs, macht uns klein.
Karin Salm
Comics: Klug und abgründig
- Der beste Comic: «Tunnel» von Rutu Modan
Mit «Tunnel» bricht die israelische Comic-Autorin Rutu Modan den Nahostkonflikt herunter auf eine illegale Tunnelgrabung: Ein bunter Haufen israelischer Amateur-Archäologen gräbt sich unter dem Grenzzaun hindurch ins Westjordanland, weil sie dort nichts Geringeres als die Bundeslade vermuten. Auf halbem Weg stossen sie auf zwei Palästinenser, die einen Tunnel in die Gegenrichtung buddeln, um Lebensmittel, Menschen und Waffen zu schmuggeln. Mit dieser Situation, die viel Zündstoff für Konflikte, Kooperation und Komik birgt, inszeniert Modan ein kluges und abgründiges Theater des nahöstlichen Irrwitzes.
Rutu Modan: «Tunnel». Carlsen Verlag, 2021.
- Lobende Erwähnung: «Dragman» von Steven Appleby
Fliegen dank Frauenkleidern und Superkräfte dank Genderfluidität: August Crimp alias Dragman ist ein Superheld der sehr ungewöhnlichen Sorte. Ein grandioser Superheldencomic jenseits aller Klischees und Stereotypen.
Steven Appleby: «Dragman». Schaltzeit Verlag, 2021.
- Die Enttäuschung: «Der Hafen der Geheimnisse» von Pierre Gabus und Romuald Reutimann
Das Cover verheisst ein Abenteuer im Stil von «Tim und Struppi» und Jacques Tardis fantastischen Krimis. «Ein Hafen der Geheimnisse» entpuppt sich jedoch als unausgegorene Story ohne roten Faden und echte Spannung
Pierre Gabus und Romuald Reutimann: «Der Hafen der Geheimnisse». Carlsen Verlag, 2021.
Christian Gasser
Podcasts: Hier bleiben die Stöpsel drin
- Der beste Podcast: «Wirecard – 1,9 Milliarden Lügen»
Einmal mehr schreibt das reale Leben die besten Geschichten für einen spannenden Podcast: Ein Jahr nach dem Zusammenbruch von Wirecard rollt die Süddeutsche Zeitung den Fall des deutschen Finanzunternehmens in einem achtteiligen Podcast auf. Entstanden ist eine packende Mischung aus Wirtschaftskrimi und Spionagethriller, die das Lügenkonstrukt Wirecard sorgfältig erklärt. Die Mischung aus Analyse, sorgfältig eingesetzter Musik und Originaltönen ist eine Kopfreise durch Teppichetagen, geheime Polittreffen und naive Anlegerträume. Das lässt die Ohrstöpsel nicht mehr weglegen – bis zum letzten Ton.
«Wirecard – 1.9 Milliarden Lügen» ist ausschliesslich auf Spotify zu hören.
- Lobende Erwähnung: «Money Matters»
Mit dem Podcast «Money Matters» beleuchtet der Finanzblog MissFinance Frauen und ihr Finanzverhalten – ein Prise Humor inbegriffen. Mit besserer Tonqualität und ein paar Stunden Moderationstraining könnte es richtig gut werden.
«Money Matters» von MissFinance gibt es auf allen Podcast-Plattformen.
- Die Enttäuschung: «Nur verheiratet mit Hazel & Thomas»
Die scharfzüngige Comedienne Hazel Brugger überrascht ihre Fangemeinde mit Kinder-, Ehe- und Hausgeschichten. Nichts gegen eine glückliche Wohlfühl-Hazel in der Familienkiste, aber wer die bitterbösen Seitenhiebe der Schweizerin mag und erwartet, sollte sich an ihre Bühnenauftritte halten.
«Nur verheiratet mit Hazel & Thomas» ist ausschliesslich auf Spotify zu hören.
Susanne Witzig