Wie knackt man einen Panzer aus Wut?
Mona Vetsch
Ich treffe Heidi Jayanti Oberli, um einen prägenden Moment ihres Lebens aufzurollen: 1978 outet sie sich vor versammelter Fernsehnation in der Sendung «Telearena» und prangert die Diskriminierung homosexueller Menschen an.
Die damals 22-jährige Heidi Oberli ist wütend, unerschrocken, kämpferisch. Die Sendung wird zum Tabubruch.
Wir haben beide klare Vorstellungen, wie das Gespräch laufen soll. Nur nicht die selben. Heidi Oberli will das Gespräch zur Kontrolle mit ihren Smartphone mitschneiden, was mich ziemlich irritiert.
Kurz darauf zieht sie einen Stapel vorformulierter Antworten hervor. Ich bitte sie, die Notizen wegzulegen. Sie will nicht, zu wichtig ist ihr die Sache. Zu prägend sind vielleicht auch die schlechten Erfahrungen mit Medien. Wir diskutieren hin und her. Das «Du» bekomme ich geschenkt, das Vertrauen will errungen werden.
Aber dann finden Heidi und ich uns doch. Ich habe unterschätzt, wie aufrüttelnd die Erinnerungen für sie sind. Auch nach 43 Jahren. Es ging für Heidi um nichts weniger als ihre Existenz: «Wenn es dich nicht geben darf, stehst du entweder auf oder gehst unter.» Auch mein Bild der «Vorkämpferin» revidiert sie: «Ich brauchte die harte Schale, um mein Inneres zu schützen. Es war ein langer Weg, diesen Panzer aus Wut wieder loszuwerden.».
Dass sie das geschafft habe, sei der wirkliche Sieg. Für mich war es eine der überraschendsten Erkenntnisse des Jahres.
Wofür steht Heidi Oberli heute ein? «Für die Liebe. Die Liebe ist das Einzige, was wirklich zählt.»
Das bewegende Gespräch mit Heidi Oberli hallte in mir nach in diesem Jahr, in dem wir Frauenstimmrecht und Gleichstellungsartikel feierten und an der Urne «Ja» sagten zur «Ehe für alle». Ein wichtiger Schritt, findet die Pionierin. Auch wenn sie das Ehe-Konstrukt für veraltet hält. «Aber immerhin haben wir jetzt die Wahlfreiheit, auch daran zu scheitern.»
Als Lady Gaga ins Wohnzimmer guckte
Selim Petersen
Interviews mit Filmstars sind so eine Sache. Meist kriegt man sie nur im Rahmen von «Press Junkets». So heissen die Interview-Anlässe, in denen man im Fünf-Minuten-Takt den sogenannten «Talents» eines Films gegenübersitzt.
Gute Gespräche sind in einem solchen künstlichen Rahmen die absolute Ausnahme. Weil die Stars, von den immergleichen Fragen gelangweilt, meist mechanisch antworten. Und man als Journalist oft stundenlang ausharren muss, bis man endlich an die Reihe kommt. Bei Lady Gaga war zum Glück alles anders.
Okay, lange warten musste ich auch für meine Interviews zu «House of Gucci». Doch nicht vor irgendeinem Luxus-Hotelzimmer wie bei den Junkets vor der Pandemie, sondern in den eigenen vier Wänden.
Seit Corona finden fast alle Presse-Marathons digital statt. Mit einem lustigen Nebeneffekt: Plötzlich schauen einem die Stars in die eigene Stube. Und können sich ab und zu eine spitze Bemerkung dazu nicht verkneifen.
Oscarpreisträger Jared Leto meinte zum Beispiel, als er mehrere Holzgiraffen in meinem Home-Office entdeckte: «Sie sind mir wohl aus Kenia zugeschaltet!» Korrekt, antwortete ich: «Direkt aus Kenia, Switzerland.»
Wer wissen will, wieso wir danach unter anderem über «den internationalen Sound von Rasenmähern» philosophierten, klickt am besten aufs Video. Dort sieht man auch, wie sich Lady Gaga von meiner Tolstoi-Frage inspirieren liess, während sie Adam Driver eher zu überfordern schien. Fazit: Daumen rauf für the Good (Jared Leto), Daumen runter für the Bad (Adam Driver) und eine glatte 10 für the Gaga.
Von Momo lernen
Olivia Röllin
Wie Momo müsste man sein. Das dachte ich mir, als wir damals in der fünften Klasse bei Frau Kaiser den gleichnamigen Roman von Michael Ende lasen. Das Einzige, woran das Mädchen reich ist, ist Zeit.
Und: Sie kann zuhören wie keine Zweite. Nämlich so gut, dass Leute, die mit ihr sprechen, auf Gedanken kommen, von denen sie gar nicht wussten, dass sie in ihnen stecken. Dieses Jahr nahm ich mir das Buch wieder vor. Und ich verstand, weshalb Momo für mich schon damals so besonders war.
So zuhören können wie Momo, ist eine Kunst für sich. Und es ist dieses Können, da bin ich mir ziemlich sicher, wodurch die eine oder andere tatsächliche Sternstunde entstehen kann. Auch wenn ich diese Kunstform noch nicht virtuos beherrsche, habe ich das Glück, regelmässig üben zu können.
Kürzlich sass mir in meinem Sternstundenuniversum etwa der Autor und Pulitzer-Preisträger Richard Powers gegenüber. Zwischen uns ein Tisch und zwei Bonsais. Manchmal braucht es nicht viel, damit eine Erfahrung zur Erinnerung wird.
Richard Powers trat mir schon vor dem Gespräch in der Garderobe in seiner ganzen hünenhaften Grösse entgegen und beteuerte mit gütigem Blick, wie sehr er sich auf das Gespräch freue. Dabei strahlte der Naturfreund eine sichtliche Ruhe und Zufriedenheit aus, die er auch im Studio nicht verlor.
Ganz im Gegenteil: Als wir über die eigene Sterblichkeit sprachen, verfocht Powers den Tod als die grossartigste Erfindung des Lebens und die tiefste Sinnquelle unseres Daseins. Nebst seiner aufrichtigen Liebe zur Natur hat mich genau diese Unerschütterlichkeit echt beeindruckt.
Und ich, in meiner ganzen noch-nicht-Momohaftigkeit, habe erst im Nachhinein gemerkt: Hätte ich doch noch besser zugehört, hätte ich vielleicht nachgefragt, wie Powers zu dieser stoischen Ruhe vor dem Tod fand. Wie Momo müsste man sein.
Ein vibrierender Abend in der neuen Tonhalle
Moritz Weber
Darauf haben Zürich – und auch ich – vier Jahre lang gewartet. Umso grösser waren am Wiedereröffnungsabend die Freude – und die Spannung. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie der frisch renovierte Saal nun aussehen und klingen würde.
Der Ausblick durch die Glasfront des neuen Foyers auf den See ist grossartig, aber der frisch restaurierte grosse Tonhallesaal ist schlicht eine Augenweide. Früher noch mehrheitlich in crèmefarbenen Tönen, jetzt in einer wiederhergestellten Farbenpracht in Pastelltönen.
Die ursprüngliche Farbigkeit ist freigelegt, die darüber gepinselten Farbschichten wurden in minutiöser Kleinarbeit abgetragen. Jetzt sind die Säulen wieder roséfarben, die Deckengemälde wirken lebendiger, die Verzierungen wie zum Beispiel das Obst – fast zum Reinbeissen. Alles ist realistischer, und das omnipräsente Blattgold lässt den Saal zusätzlich strahlen.
Der Saal ist aber auch eine «Ohrenweide»: Das Tonhalle-Orchester Zürich spielte unter Chefdirigent Paavo Järvi im Wiedereröffnungskonzert voller Elan Gustav Mahlers grossbesetzte dritte Sinfonie. Ein ideales Werk, um die Vorzüge dieses seit jeher für seine hervorragende Akustik berühmten Saals zu zeigen.
Ob er nun tatsächlich besser klingt als vor der Renovation, ist rückhörend schwer zu sagen. Gemäss den Akustikprofis, welche die Renovierung begleiteten, hat unter anderem das Entfernen des Staubs aus den kleinsten Ritzen eine Klangoptimierung gebracht. Ich hatte ebenfalls das Gefühl, dass es etwas klarer, direkter, frischer klingt als früher. Aber vielleicht ist das eine Wechselwirkung mit der farblichen Auffrischung.
Im wahrsten Sinn des Wortes spürbar sind die Vibrationen: Das Orchesterpodium war zwischenzeitlich vom Parkettboden entkoppelt worden, die Vibrationen übertrugen sich so kaum mehr auf den Zuschauerraum. Dies wurde jetzt rückgängig gemacht. Und tatsächlich: Wenn das Orchester mit voller Kraft loslegt, ist das im Parkett körperlich zu spüren.
Ein Rapper trifft seine Lieblingsphilosophin
Melissa Varela
Wird unsere Gesellschaft immer depressiver? Das wollte der 24-jährige Rapper Morow von der Philosophin Barbara Bleisch wissen. Ende November besuchte er für unseren Instagramkanal einen Dreh der Philosophiesendung «Bleisch & Bossart».
Morow ist grosser Fan des Formats und noch grösserer Fan von Barbara Bleisch selbst. Als er mir das im Vorfeld erzählte, war ich überrascht. Nie hätte ich ihn, den Strassenrapper, in einem so intellektuellen, ja fast schon elitären Umfeld gesehen. «Ich gucke jede Sendung», meint er schüchtern als er seinem grossen Idol gegenübersitzt.
Das war mein «Magic Moment». Mir wurde bewusst, dass Philosophie eben nicht elitär ist – oder es zumindest nicht sein müsste. Philosophie ist Teil des Lebens, unabhängig von Universitäten oder Büchern. Sie begleitet uns stetig und still durch den Alltag. Sie begegnet uns im Tram, kitzelt uns unter den Fingernägeln, zwickt uns jedes Mal, wenn wir vergessen, «warum wir das alles eigentlich machen». Philosophie ist für alle da, auch für Morow.
Und so sitzen sie also zusammen am Tisch: Ein Rapper, der seine Kindheit im Waisenhaus verbrachte und nun seine Erfahrungen in gedichteten Texten verarbeitet. Und eine Philosophin, die Zuflucht in Büchern sucht und mit Denkern diskutiert.
Eine schräge Begegnung – und doch unglaublich schön. Die beiden verbindet eine Vergangenheit mit Depressionen: Morow kämpfte während seiner Jugend sechs Jahre mit der Krankheit, Bleisch verbrachte als Teenagerin Zeit in einer Klinik.
Wird unsere Gesellschaft tatsächlich immer depressiver, wie Morow befürchtet? Oder war sie schon immer so? Barbara Bleisch meint, Melancholie habe die Menschen schon immer geprägt. Der Umgang mit ihr sei heute aber anders. Morow ist der Meinung, dass wir mehr über unsere mentale Gesundheit reden müssen. Das sehe ich auch so.
Der Dreh war einer meiner liebsten Momente des Jahres. Er zeigte mir, dass wir zwar aus unterschiedlichen Welten kommen können, aber im Grunde doch einfach Menschen sind. Menschen mit Ängsten und Sorgen, die es – ganz im Sinne der Philosophie – zu ergründen gilt, und die uns stark verbinden.