Das Touristenprogramm in New York ist schon lange immer das gleiche. Der Reisebericht «Das eingeschossige Amerika» von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow etwa belegt das. Wie Rudy Burckhardt erreichten sie New York 1935 mit dem Schiff. Und auch die Neuankömmlinge in den 1930er-Jahren legten in New York als erstes den Kopf in den Nacken und bestaunten Häuser hoch wie Berge und störten den eiligen Schritt der New Yorker Passanten.
Sie entdeckten das Schachbrettmuster aus Avenues und Streets und flanierten schliesslich nachts über den Times Square, um ein Bad in den hellen Lichtern der der Grossstadt zu nehmen. Vermutlich hat auch Rudy Burckhardt dieses Programm absolviert. Aber fotografiert hat er es nicht.
Kaugummiflecken und Hosenbeine
Rudy Burckhardt war mit seiner Kamera hinter anderen Dingen her. Er fotografierte Hydranten, das Muster der Kaugummiflecken auf dem Asphalt der Trottoirs oder die architektonischen Details zweier Fassaden, die aneinanderstossen. Sein Blick klebte im Chaos der Metropole am Boden. Nach und nach erst hob er ihn, fotografierte Beine und Waden in Strümpfen oder Hosenbeinen, um die chaotischen Bewegungen der Passanten einzufangen.
«Rudy Burckhardt konzentrierte sich auf die Details», sagt Martin Gasser, Kurator der Burckhardt-Ausstellung in der Schweizer Fotostiftung in Winterthur. Er vermutet, die Stadt habe ihn zunächst wohl überwältigt. Die Fragmentarisierung ebendieser war die Lösung. Wer die Fragmente zusammensetzt, bekommt das Ganze wieder in den Blick.
Ein distanzierter Blick auf das Nebensächliche
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Rudy Burckhardts Sujets änderten sich mit den Jahren. Es folgten Laden- und Restaurantfronten voller Werbeschilder für Tagessuppen oder Roastbeef-Sandwiches. Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Burckhardt in der US-Armee absolvierte, stieg der gebürtige Basler auf Hausdächer und fotografierte Stadtlandschaften in Queens. Gerne verwendete er kaum zu erkennende Nebensächlichkeiten auf dem Bild als Titel. So rückt er ein Reklameschild für Nähmaschinen in einer dunklen Strassenschlucht oder einen Hahn auf einer Kirchturmspitze weit hinten, beides kaum zu erkennen, ins Zentrum des Interesses.
Während andere Fotografen wie Walker Evans oder der etwas später nach New York gekommene Schweizer Robert Frank die sozialen Spannungen der USA meisterhaft ins Bild setzten und sich teils auch politisch engagierten, behielt Rudy Burckhardt seinen distanzierten Blick auf Nebensächliches bei. Der Sohn aus guter Familie konnte sich die Aussenseiterposition leisten: Er lebte von einer Erbschaft und musste seine Fotos nicht verkaufen.
Ein grossartiges New York-Porträt
Er suchte und fand die Schönheit der Abstraktion im Alltag. Etwa, wenn er zwei aneinander gelehnte Werbetafeln für Getränke fotografierte und die Namen der beiden Limonaden vergessen macht durch den harten Clash einer Schnörkelschrift und einer klaren Typografie – Popart vor ihrer Zeit.
Rudy Burckhardt interessierte sich aber auch für Flächen und Raumtiefe. Wie ein Konstruktivist brachte er beides auf Fotos zusammen. Etwa, wenn er 1940 eine verlassene Tankstelle in Queens fotografierte. Von rechts ragt ein Preisschild mit angeschnittenen Ziffern ins Bild, links öffnet sich der Raum auf ein gottverlassenes Areal, mit Zapfsäulen fast bis zum Horizont. Kein Mensch ist zu sehen und von allen Rohren blättert Farbe. Dieses Bild begeisterte selbst einen Meister wie den Fotografen Robert Frank. Kurator Martin Gasser hat es ihm in der Vorbereitung zur Ausstellung gezeigt.
Der fotografierende Stadtingenieur Rudy Burckhardt stand mit seiner Art, Bilder zu machen, quer zu jeder fotogeschichtlichen Entwicklung. Er vertraute geradezu starrsinnig seinem ästhetischen Empfinden. Auch, wenn er weder Freiheitsstatue noch Brooklyn Bridge fotografierte: Sein New York-Porträt in Fragmenten ist es wert, entdeckt zu werden.