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Kunst und Kultur im Krieg «Kunst ist ein wichtiger Faktor für die Motivation der Menschen»

Seit der russischen Invasion sind Tausende ukrainische Kunst- und Kulturgüter zerstört worden. Kunsthistoriker Johannes Nathan erklärt, wie das kulturelle Erbe des Landes gerettet werden kann - und warum Kultur die Bevölkerung motiviert.

Johannes Nathan

Kunsthistoriker

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Johannes Nathan lehrte Kunstgeschichte der Renaissance und die Geschichte des Kunstmarktes an den Universitäten Berlin (TU), Köln, Leipzig, New York (NYU), Lissabon und Zürich.

Er ist Mitgründer des «Forums Kunst und Markt - Zentrum für Kunstmarktforschung» und Gründungsvorsitzender der International Art Market Studies Association, sowie Präsident der Max Liebermann Gesellschaft Berlin und Vorstandsmitglied des Schweizerischen Kunsthandelsverbandes.

SRF: In den Medien kursieren immer wieder unterschiedliche Zahlen zu den Kulturgutverlusten in der Ukraine durch Russlands Angriffskrieg. Wie viele Kulturgüter sind bisher zerstört worden?

Johannes Nathan: Aktuell ist es unglaublich schwierig, eine präzise Zahl zu nennen. Wenn wir über Institutionen und Stätten sprechen, mag eine Zahl um 500 aktuell nicht schlecht geschätzt sein, aber bei den Objekten gehen die Zahlen in die Zigtausende.

Zerstörungen in Mariupol

Einerseits wurden Objekte bei Angriffen, Feuern, Raketentreffern und so weiter zerstört, andererseits wurde auch sehr viel geplündert und von den Invasoren abgeschleppt.

In Folge der Zerstörung des Kachowka-Staudamms gab es Berichte, dass viele Museen und archäologische Stätten geflutet worden seien. Wie gross ist der kulturelle Schaden durch die Flut?

Wir müssen davon ausgehen, dass auch hier ein sehr grosser Schaden entstanden ist: etwa durch Fluten von Museen, wie zum Beispiel das Museum von Polina Reiko. Das ist eine Künstlerin, die ihr Leben lang ihr eigenes Haus ausgemalt hat, mit wunderbaren Wandgemälden.

Diese Wandgemälde sind fast komplett zerstört worden. Es gibt viele andere Verluste an archäologischen Stätten, die geflutet wurden.

Sie engagieren sich im Netzwerk «Kulturgutschutz Ukraine». Wie kann man Kulturgüter in einem Kriegsgebiet schützen?

Es ging erst mal darum, durch Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine zu ergründen, was überhaupt vor Ort benötigt wird, damit die Kulturgüter in Sicherheit gebracht werden. Da zeigte sich sehr schnell: gebraucht wird Verpackungsmaterial. Einfache Luftpolsterfolie, Kisten. Man brauchte OSB-Platten für die Fenster, die durch die Schockwellen der Bombentreffer zerstört wurden.

zerstörte Kirchenmauer, hellbalu, rechts viel Schutt, hinten rechts Kirchenturm im Hintergrund
Legende: Bis dato wurden im Krieg viele Kirchen zerstört, hier die Kirche der Heiligen Mutter im Dorf Bohorodychne in der Region Donezk. IMAGO / Pacific Press Agency / Lev Radin

Dadurch, dass wir im ständigen Austausch waren, konnten wir durch Spenden von Museen in Deutschland und der Schweiz erst mal ziemlich viele Materialien liefern. Wir waren dann im Sommer letzten Jahres auch in der glücklichen Lage, von der deutschen Bundesregierung drei Millionen Euro zu erhalten. Damit konnten wir die Initiative nochmal auf einem viel höheren Niveau betreiben.

Zum Streit um das sogenannte Skythen-Gold von der Krimhalbinsel hat ein niederländisches Gericht entschieden, dass die wertvollen Ausgrabungsgegenstände nach Kiew zurückkehren sollen und nicht auf die Krim. Macht eine Rückgabe von Kulturgütern in ein Kriegsgebiet Sinn?

Es ist auf jeden Fall sinnvoll, wenn dieses Gold an die Ukraine, konkret: nach Kiew, zurückgegeben wird – zumal die ukrainische Armee sich als überaus effizient erwiesen hat und die Angreifer im März und April erstmals aus grossen Gebieten um Kiew und aus dem Nordosten der Ukraine vertreiben konnte.

Eine goldene Reliquie, die geflügelte Drachenwesen im Kampf mit einem Pferd darstellt.
Legende: Streit ums goldene Pferd: Sowohl die Ukraine als auch Russland beanspruchen die auf der Krim ausgegrabenen Schätze der Skythen für sich. Imago / AGB

Aktuell läuft eine weitere Gegenoffensive, und dementsprechend hat man auch auf Seiten der Ukraine entschieden, nicht Kunstwerke im grossen Stil ins Ausland zu verlagern. Im Übrigen will man dafür sorgen, dass die Kunstwerke in der Ukraine gut gesichert werden und die Institutionen nach und nach wieder ihren normalen Betrieb aufnehmen können.

Das ist auch ein ganz wichtiger Faktor für die Motivation der Bevölkerung. Es wird oft unterschätzt, welche Rolle gerade die Kultur dabei spielt, Identität zu stiften und eine Gewissheit zu geben, dass das normale Leben zurückkehren wird.

Das Gespräch führte Igor Basic.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 27.05.2023, 17:20 Uhr ; 

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