Bekannte Bilder werden oft «Ikonen» genannt. Meistens ist das Blödsinn. Ein Bild trägt den Ehrentitel aber zu Recht: Kasimir Malewitschs «Schwarzes Quadrat». Denn der Künstler hängte es in der ersten legendären Ausstellung 1915 in die obere Ecke des Raums direkt unter die Decke, also an den Platz, den üblicherweise die russischen Ikonen einnahmen.
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Gründungsmythos mit Lücken
Eine pure Provokation war diese Hängung – und das Bild an sich. Denn das «schwarze Quadrat» begründete die nichtfigurative Malerei.
Was das heisst? Es zeigt eben nicht mehr als ein schwarzes Quadrat: nur Geometrie, keine Repräsentation einer mehr oder weniger abstrahierten Wirklichkeit. Neben das Quadrat hängte Malewitsch auch das Kreuz, den Kreis und viele andere seiner suprematistischen Bilder.
Ein historisches Foto zeigt Malewitschs Wand in der legendären «letzten futuristischen Ausstellung der Malerei 0,10» – so der rätselhafte Titel der Schau. In der Fondation Beyeler ist jetzt zum 100. Geburtstag der Legende zu entdecken, was nicht fotografiert wurde: Was und wer neben Malewitsch zu sehen war. So genau hat man das bisher gar nicht gewusst. Wie das bei Legenden eben so ist, vieles daran ist eher schwammig.
Russische Amazonen
In «0,10» waren 1915 Arbeiten von 14 Künstlerinnen und Künstlern zu sehen, unter ihnen so bekannte wie Iwan Puni oder Wladimir Tatlin mit ihren revolutionären Reliefs. Aber auch – und das ist die grosse Überraschung der Ausstellung in der Fondation Beyeler über eine Ausstellung in St. Petersburg – eine ungeheuer starke Frauenfraktion.
Von Nadeschda Udalzowa ist eine phänomenale kubistisch aufgesplitterte «Küche» zu sehen: Da landet die Kunst des Kubismus unsanft im Alltag mit seinen Dämpfen, Fettspritzern und üblen Gerüchen.
Vollbad in der aggressiven Avantgarde
Olga Rosanowa zeigte das Bild eines «Schreibtisch»: mit illusionistisch dargestellten Briefseiten, einem quietschgelben Masstab, schwarzen und roten geometrischen Formen, russischen und römischen Buchstaben und einem gezeichneten Tintenfass. Eine Promenadenmischung der Stile in einem Trompe-l'Œil – ein absolut irres Bild.
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Auch hundert Jahre später wirken diese Kunstwerke. Ihr Schockpotential von damals allerdings haben sie verloren. Abstrakte und nichtfigurative Kunst gehört unterdessen längst zum Kanon. Und in der Fondation Beyeler kann die einst aggressive Avantgarde wie ein Vollbad genossen werden.