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Prähistorische Höhlenmalerei Waren die Neandertaler die ersten abstrakten Künstler?

Vor 57'000 Jahren zeichneten Neandertaler abstrakte Muster in die Felswände im Loiretal. Ein Forscherteam hat nun nachgewiesen: Die Höhlengravuren wurden sorgfältig mit Fingern ausgeführt.

Hunderte schwache Streifen – gerade, wellenförmig oder gebogen – sowie Punkte zieren die Wände aus Tuffstein. Sie sind bis zu einem halben Meter lang und etwa fingerbreit. Als ob jemand mit seiner Hand an der weichen Wand entlang gestrichen und hin und wieder die Fingerspitze in den Stein gedrückt hätte.

Aufnahme einer Höhlenwand, auf der längliche Rillen in die Oberfläche eingeritzt sind.
Legende: In Reih' und Glied: Früheste Höhlengravuren von Neandertalern, zu bestaunen in La Roche-Cotard im Loiretal in Frankreich. Wikicommons / Jean-Claude Marquet

Bekannt sind die abstrakten Muster an den Höhlenwänden von La Roche-Cotard im französischen Loiretal schon seit den 1970er-Jahren.

Erst jetzt ist es einem Team von Forschenden in einer aktuellen Studie gelungen, genau zu untersuchen, von wem die Spuren stammen. Dafür machten sie die Gravuren in einer anderen Höhle nach ­– mit verschiedenen Werkzeugen unter anderem aus Stein, Knochen oder Holz, aber auch mit den Fingern.

Alle Spuren weisen auf Neandertaler hin

Dreidimensionale Modelle davon verglichen sie dann mit jenen aus der Höhle. «Mit diesen Experimenten konnten wir bestätigen, dass die Spuren zum grössten Teil tatsächlich von Fingern stammen», sagt Eric Robert, Archäologe und Spezialist für prähistorische Felskunst am nationalen Naturkundemuseum in Paris. Doch wessen Finger?

Zeichnung eines Plans, der 26 längliche, nebeneinander gestellte Rillen abbildet.
Legende: Was die Höhlengravuren bedeuten sollen, wissen die Forschenden nicht. Aber dass Neandertaler Urheber der Zeichnungen sind, ist nun gesichert. Wikicommons / Jean-Claude Marquet

Um das herauszufinden, führten die Forschenden verschiedene Analysen durch. So untersuchten sie beispielsweise das Alter von Gesteinen im Inneren und ausserhalb der Höhle. Das Ergebnis: Die Höhle wurde vor etwa 57'000 Jahren verschlossen. Zu einer Zeit also, in der nur Neandertaler in dieser Region lebten.

Ist das noch Kritzelei oder schon Kunst?

Der moderne Mensch besiedelte das Gebiet erst später. Auch Steinwerkzeuge aus der Höhle lassen sich Eric Robert zufolge diesen Urmenschen zuordnen. Das macht die abstrakten Muster zu den ältesten Höhlengravuren von Neandertalern, die man bisher kennt.

Doch ist das Kunst? «Diesen Begriff haben wir in unserer Studie absichtlich nicht verwendet», sagt der Spezialist für Felskunst. Und zwar, weil der Begriff sehr konnotiert sei.

Schnell denke man bei Kunst an figürliche Darstellungen und eindrückliche Höhlenmalereien, etwa die der französischen Höhlen von Chauvet und Lascaux, sagt Eric Robert. Dort finden sich unzählige Wandbilder von Bären, Pferden oder Bisons, die dem modernen Menschen zugeschrieben werden.

Die Muster sind nicht zufällig, sondern mit Sorgfalt ausgeführt.
Autor: Eric Robert Archäologe, Nationales Naturkundemuseum Paris

Und: «Wir sprechen nicht von Kunst, weil wir nicht wissen, warum die Neandertaler die Felszeichnungen gemacht haben und darum auch nicht entschlüsseln können, was sie bedeuten.» Um das zu verstehen, fehle ihnen der Code.

Man sehe hingegen klar, dass die Muster räumlich organisiert sind. «Das zeigt deutlich, dass sie nicht zufällig, sondern gut durchdacht, vorausschauend und mit Sorgfalt ausgeführt wurden», sagt Eric Robert.

Fundgrube für Höhlen-Juwelen

Erstaunlich sei dem Experten zufolge auch die Anzahl und Vielfalt der Spuren, wie man sie in keiner anderen Höhle in Europa bisher entdeckt hat.

Der Forscher hofft denn auch, dass zukünftige Entdeckungen dazu beitragen können, die Felszeichnungen besser zu verstehen. Denn eines zeige La Roche-Cotard auf jeden Fall: Der Neandertaler ist immer wieder für Überraschungen gut.

Radio SRF 2, Kultur-Aktualität, 21.7.2023, 17:20 Uhr

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