Früher wurden im Sittertal bei St. Gallen Textilien gefärbt. Heute wird in den grossen Hallen auf dem weitläufigen Fabrik-Areal iKunst produziert. Es gibt Werkstätten für Keramik, für Wachs oder für 3-D-Prints. Hier arbeiten rund 45 Menschen daran, die Entwürfe von internationalen Künstlern umzusetzen.
Offen für alle
Dabei fallen Materialproben und Muster an, die später für andere Künstler bei der Entwicklung eines Werks wertvoll sein können.
«Für Künstler und Gestalter ist es wichtig, Materialproben in die Hand nehmen zu können, das Gewicht zu spüren und zu sehen, wie die Oberfläche das Licht reflektiert», sagt Julia Lütolf.
Sie ist die Verantwortliche des Werkstoffarchivs, das vor zehn Jahren gegründet wurde, um die Proben und Muster systematisch zu erfassen. Das Archiv wird von einer Stiftung getragen und ist öffentlich für alle Interessierten zugänglich.
Hinter jedem Stück eine Geschichte
In einer hellen früheren Industriehalle stehen hohe Schränke mit Schubladen. Julia Lütolf zieht eine mit der Aufschrift «Polymethylmetacrylat» heraus.
Darin liegen perfekte Nachbildungen einer zerknüllten Milchflasche und einer Zitrone. Beide bestehen aus einem gräulichen, feinkörnigen Material – Abfallprodukte aus der Produktion von 3-D-Prints.
Nebst unzähligen Kunststoffverbindungen, die dank 3-D-Prints in der Kunstproduktion immer wichtiger werden, gibt es auch seltene Naturmaterialien: etwa Montanwachs, ein fossiles, schwarzes Naturwachs, das sich spröde wie Siegellack anfühlt.
Oder Selenit, auch Marienglas genannt, eine kristalline Form von Gips. Mit den transparenten Plättchen, die sich davon ablösen lassen, wurden früher Reliquienbehälter gestaltet, erzählt Julia Lütolf. «Hinter jedem Stück verbergen sich Geschichten – man kann hier im Werkstoffarchiv die Welt erklären.»
Von der Materialprobe zur Documenta
Die Vielzahl der hier versammelten Materialien soll dazu anregen, Neues auszuprobieren und den Horizont zu erweitern.
«In den meisten Handwerksberufen lernt man mit einem Material umzugehen», sagt die gelernte Schreinerin. «Dabei vergisst man gerne, dass es noch andere Materialien gibt, die man kombinieren könnte.»
Julia Lütolf erzählt, wie sich die mexikanischen Künstlerin Mariana Castillo Deball, die eine Weile in einem Gastatelier des Sitterwerks gearbeitet hat, von Stuckmarmor inspirieren liess, den sie bei der Recherche im Werkstoffarchiv entdeckt hatte. Sie entwickelte das Verfahren weiter für ein Objekt, das später bei der Documenta 2013 in Kassel zu sehen war.
Digitale und analoge Recherche
Zu einer Vielzahl der Materialproben gehört ein Chip: Auf einer Lesestation bekommt man Hintergrundinformationen aus einer zentralen Datenbank, die mit weiteren Materialarchiven verbunden ist.
Neugier und Zufall sollen die Recherche leiten. Deshalb hat die angrenzende Kunstbibliothek kein Ordnungssystem: Jedes Buch ist mit einer Radio-Frequenz-Etikette ausgestattet; ein Lesegerät zeigt an, wo es sich gerade befindet. «Das animiert dazu, nicht immer in denselben Kategorien zu denken», sagt Julia Lütolf: «Vielleicht lenkt das die Recherche in eine andere Richtung als erwartet.»
Das Werkstoffarchiv im Sitterwerk ist eine Fundgrube für alle, die gestalterisch arbeiten. Für alle anderen lohnt es sich, einen Blick hinter die Kulissen der Kunstproduktion zu werfen und über die Vielfalt nie gehörter Materialien zu staunen.