Seit mehreren Jahren stickt Cao Yu an einem Tagebuch. Für die Serie «Everything is left behind» verwendet die chinesische Künstlerin ihre Haare als Faden und schreibt autobiografisch geprägte Texte.
Der erste Satz lautet: «Unsere Familie hat kein Glück. Wir haben ein Mädchen gekriegt, und sie ist hässlich, mit einer flachen Nase.» Glück hatte, wer einen Sohn kriegte unter Chinas Ein-Kind-Politik.
Normen hinterfragen
In ihren Arbeiten hinterfragt Cao Yu immer wieder gesellschaftliche Normen und Missstände: «Das treibt mich an. Nur so habe ich das Gefühl, dass mein Leben lebenswert ist.» So zum Beispiel auch in ihrem aktuellen Werk mit dem Titel «Boss», ausgestellt an der Art Basel Hong Kong in der chinesischen Sonderverwaltungszone.
Das knapp zwei Meter hohe Ölgemälde zeigt ein Schwein, das in Hose, Hemd und Mantel auf einem Thron sitzt. Sein Bauch quillt über den Designergürtel, der Fuss ruht lässig auf einem Artgenossen.
Zu Explizites macht Ärger
Das Gemälde habe Allgemeingültigkeit, erklärt Cao Yu: «Ich glaube, verschiedene Menschen aus verschiedenen Ländern empfinden eine Ähnlichkeit eines bestimmten Zustandes, wenn sie das Werk betrachten. Ein Déjà-Vu.»
Weitere Interpretationen und allfällige Assoziationen mit der chinesischen Politik überlässt die Künstlerin bewusst dem Betrachter. Während Künstlerinnen und Künstler im Westen die Dinge beim Namen nennen und provozieren dürfen, ist das insbesondere in Festlandchina anders. Zu explizite Kritik wird zensiert.
Es gibt wieder mehr Kontrolle
Mit Zensur kennt sich René Meile aus. Der Schweizer vertritt Cao Yu und führt die Galerie Urs Meile in Peking. Künstlerinnen und Künstler könnten in China in ihren Studios frei arbeiten, Ausstellungen würden aber von den chinesischen Behörden überwacht und Inhalte kontrolliert.
«In den letzten Jahren wurde definitiv mehr kontrolliert», sagt René Meile. «Was ausgestellt werden kann und in welcher Form, das ist dabei auch verhandelbar.» Ein Handbuch dafür, wo die roten Linien verlaufen, gebe es nicht. «Die Gründe werden nicht erläutert», so René Meile. «Bei nackter Haut heisst es beispielsweise, das sei ungeeignet für Kinder.»
Reibung durch Restriktionen
Trotzdem gibt es eine lebendige Kunstszene in China. Sammler, Kuratorinnen und Künstler treffen sich laut René Meile oft an privaten Kunstschauen oder direkt im Studio. «Die Szene findet einfach an weniger sichtbaren Orten statt.»
Künstlerin Cao Yu lässt sich von Kontrolle und Zensur nicht abschrecken. Im Gegenteil: «Ohne Konfrontation wäre unser Schaffen leer und bedeutungslos. Es mag Restriktionen geben, aber wir müssen einfach überlegen, wie wir diese Einschränkungen nutzen.»
Bislang konnte Cao Yu ihre Werke in China zeigen. Auch dank Verhandlungsgeschick mit den Behörden. Das Werk «Boss» an der Art Basel Hongkong ist bereits verkauft – an einen Sammler in Peking.