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Abtreibung in der Literatur Tove Ditlevsen: Warum Sie diese Dänin lesen müssen

Mit einem Wiegenlied zu einer Abtreibung sorgt Tove Ditlevsen in den 1970er-Jahren für einen Tabubruch. Ihre Erzählung ist nicht nur mutig, sondern poetisch, witzig und hochaktuell. Eine Liebeserklärung an eine radikale Autorin.

Charlottenlund, Kopenhagen: Eine junge Frau sitzt in der Tram – auf dem Weg zu einer Abtreibung. Nur: Es sind die 1950er-Jahre. Der Schwangerschaftsabbruch ist in Dänemark verboten.

Auch darüber zu schreiben, erfordert grossen Mut. Denn das Verbot gilt zum Zeitpunkt der Publikation von Tove Ditlevsens Versen noch immer. Die dänische Autorin tut es trotzdem. Und zwar nicht literarisch verfremdet, sondern aus der Ich-Perspektive, in ihrer Autobiografie.

Wer war Tove Ditlevsen?

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Tove Ditlevsen mit Schreibmaschine
Legende: IMAGO / TT

Tove Irma Margit Ditlevsen wurde 1917 im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro geboren. Sie verliess die Schule mit 14 und ihr Zuhause mit 17 Jahren. Erst arbeitete sie als Dienstmädchen und Büroaushilfe, dann heiratete sie zwanzigjährig zum ersten Mal: den Journalisten und Schriftsteller Viggo Frederik Moller. Ihre Debüts als Dichterin bildeten zwei Lyrikbände im Jahr 1939.

Die erste und die zweite Ehe scheiterten, aus der zweiten ging ihre Tochter Helle hervor. Anfang der 1940er-Jahre publizierte sie zwei Romane, mit denen sie Berühmtheit erlangte. Daneben schrieb sie eine Ratgeberkolumne für ein Frauenmagazin und Kinderbücher. Sie heiratete noch zwei weitere Male und bekam zwei Söhne.

Zwischen 1967 und 1971 veröffentlichte sie ihre dreiteilige Autobiografie. Zu dieser Zeit litt sie bereits unter einer Schmerzmittelsucht. Nach mehreren Entzugsaufenthalten in psychiatrischen Kliniken und einem gescheiterten Suizidversuch nahm sie sich 1976 mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.

Lebensgefährliches Verbot

Das ist der Hintergrund dieser Erzählung. Sie heisst: «Für dich summ ich ein Wiegenlied». Obwohl Ditlevsen sie vor über 50 Jahren geschrieben hat, (be-)trifft sie junge Frauen noch heute.

Die Ich-Erzählerin weiss nicht, was sie erwartet. Die Bücher, die eine Abtreibung erklären, mussten erst noch geschrieben werden. Bücher, in denen Abtreibungen vorkommen, auch. Dazu hat Ditlevsen ihren Teil beigetragen. Denn abgetrieben wurde immer. Ob in Dänemark oder in der Schweiz. Doch die Bedingungen sind unter einem Verbot lebensgefährlich. Damit konfrontiert uns Ditlevsen – und es tut weh.

Ambivalente Gefühle

«Vielleicht haben schon viele Frauen erlebt, was ich jetzt erlebe, aber man spricht nicht darüber», stellt die Protagonistin fest. Ihre Gefühle sind ambivalent. Sie ist erleichtert, ja froh. Und doch trauert sie. Bis heute gibt es gesellschaftliche Vorstellungen davon, welche Reaktionen auf eine Abtreibung angemessen sind und welche nicht. Abtreibungen müssen nicht traumatisch sein.

Schwarz-weiss-Bild der dänischen Autorin Tove Ditlevsen auf einem Sofa zwischen Klaus Rifbjerg und  Hans Lyngby Jepsen
Legende: Mittendrin im literarischen Kreis, aber lange nicht arriviert: Erst seit der Wiederentdeckung ihrer Texte in den 2010er-Jahren gehört Tove Ditlevsen in Dänemark zur Pflichtlektüre. Imago Images/ TT

Von wie vielen Menschen in unserem Umfeld wissen wir, dass sie abgetrieben haben? Auch heute wird wenig darüber gesprochen. Auch heute existieren Scham- und Schuldgefühle. Auch heute werden Frauen, die abtreiben, mit Vorwürfen konfrontiert.

Verantwortung bei der Frau

Der Ehemann sagt nach der Abtreibung zur Protagonistin: «In Zukunft müssen wir besser aufpassen.» Auch wenn er «wir» meint, hängt die Verhütungsfrage meist an der Frau. Sie trägt die Konsequenzen einer Schwangerschaft allein. Im wortwörtlichen Sinn: Es ist ihr Körper, der das Ungeborene trägt.

Überraschend: Statt aufgrund dieser Ungerechtigkeit bitter zu werden, fühlt sich Ditlevsen in die Hilflosigkeit der Männer ein. Sie stellt fest, wie verloren die Ehemänner «in dieser Frauenwelt aus Blut und Übelkeit und Fieber» wirken.

Tragikomik und radikale Ehrlichkeit

Trotz aller Schwere muss man immer wieder lachen. Etwa, wenn Ditlevsen den «Engelmacher», wie Abtreibungsärzte früher genannt wurden, als «ein halbes Jahrhundert alt, klein und hölzern» beschreibt. Mit Mundwinkeln, die so weit nach unten hängen, «als hätte er noch nie gelächelt». Ihr Humor ist trocken und verzichtet auf Beschönigung. Ditlevsen schreibt unmittelbar und ohne Umwege. Das macht sie mutig und verletzlich zugleich. Eine unwiderstehliche Kombination. 

Wiederentdeckt: Die «Kopenhagen-Trilogie»

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Tove Ditlevsen war bereits zu Lebzeiten in Dänemark bekannt, auch wenn sie nie wirklich zur «literarischen Elite» zählte. Nach ihrem Suizid 1976 erlitt sie ein ähnliches Schicksal wie viele Autorinnen dieser Zeit: Sie wurde vergessen.  

Ihr Werk erlebte in den 2010er-Jahren in Dänemark ein Comeback. Dort gehört Ditlevsen heute zur Pflichtlektüre im Schulunterricht.

Auf Deutsch ist ihre Kopenhagen-Trilogie «Kindheit», «Jugend», «Abhängigkeit» erst seit 2021 erhältlich. Seither wird sie auch im deutschsprachigen Raum gefeiert. Sie schrieb Autofiktion lange bevor es das Wort gab – lange vor Karl Ove Knausgård und Annie Ernaux.

«Für dich summ ich ein Wiegenlied» ist ein Ausschnitt aus dem dritten Teil der Trilogie, der in den «Prosaischen Passionen» als Kurzgeschichte erschien.

Das Ende lässt eine grosse, warme Leere fühlen. Ditlevsen bündelt in einem letzten Absatz die widersprüchlichen Empfindungen der jungen Frau – poetisch verdichtet. Ihre Protagonistin steht mitten in der Nacht auf, holt Stift und Papier. Und dann folgt ein Gedicht für das abgetriebene Ungeborene: das Wiegenlied. Da stockt der Atem.

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Mehr Klassikerinnen! Der diesjährige Vorlesetag auf SRF2 Kultur präsentiert weibliche Prosa um und nach 1900. Die 16 Kurzgeschichten schreibender Frauen entstammen der Sammlung «Prosaische Passionen». Sie zeigen: Die literarische Moderne war ganz entschieden weiblich.

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Radio SRF 2 Kultur, Vorlesetag, 2.1.2024, 9:00 Uhr

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