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Autor Abdulrazak Gurnah «Ich zeige, wie es sich anfühlt, kolonisiert zu werden»

Rassismus, Völkermord, Flucht: Der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah ergründet in seinem literarischen Werk das globale Chaos, in dem wir leben. Eine Begegnung mit dem Träger des Nobelpreises für Literatur 2021.

Ruhig und konzentriert wägt der 73-jährige Abdulrazak Gurnah seine Worte ab im Gespräch einem Zürcher Hotel. Der aus Tansania stammende und seit Jahrzehnten in Grossbritannien lebende Autor ist auf Lesereise. Es bleibt noch etwas Zeit bis zum Auftritt.

Gurnahs Blick ist ernst, er spricht zurückhaltend und frei von Allüren. Immer wieder blitzt aber Schalk auf. Das erste Mal, als er von jenem 7. Oktober im vergangenen Jahr erzählt, als in seinem Haus im britischen Canterbury kurz vor 12 Uhr mittags das Telefon läutete.

Eine Männerstimme habe ihm mitgeteilt, er gewinne den Nobelpreis. «Ich dachte, da will mich jemand auf den Arm nehmen.»

Begehrter Preisträger

Mit der Ruhe in seinem Leben sei es seither vorbei, schmunzelt er. Er eile von einem Interview zum anderen, von einer Lesung zur nächsten: «Ich mag den Kontakt mit Leserinnen und Lesern in ganz unterschiedlichen Kulturräumen.»

Literatur kann uns dabei helfen, die Umstände, in denen wir leben, besser zu verstehen. Und auch uns selbst.

Bei Auftritten in Afrika erlebe er regelmässig eine eigentliche Feststimmung: «Ich spüre im Publikum ein Wir-Gefühl, wonach nicht ich allein geehrt worden bin, sondern ganz Afrika. Diese Verbundenheit verbreitet Freude.»

Das globale Chaos

Der Kern von Abdulrazak Gurnahs literarischem Werk sind die zehn Romane, die er seit seinem Debüt 1987 veröffentlicht hat, in denen er sowohl historisches Geschehen als auch unsere Gegenwart schildert.

Gurnah schreibt vom Kolonialismus, von den bis heute nachwirkenden Gräueltaten der Europäer, von Flucht und Vertreibung, von Völkermord. Seine Perspektive ist eine afrikanische: «Ich will zeigen, wie sich der Kolonialismus für die Betroffenen anfühlt.»

Kurzkritik: «Nachleben» von Abdulrazak Gurnah

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Der Roman ist im englischen Original 2020 unter dem Titel «Afterlives» erschienen. Abdulrazak Gurnah bleibt darin einem seiner Hauptthemen treu: dem Kolonialismus und dessen Nachwirkungen bis heute.

Das vielschichte und stilsicher komponierte Epos erzählt von der kolonialen Vergangenheit Tansanias. Es setzt im 19. Jahrhundert ein, als Tansania unter der Bezeichnug «Deutsch-Ostafrika» eine Kolonie war, und verfolgt die Geschicke des Landes über den Ersten Weltkrieg und die folgende Kolonialherrschaft der Briten bis kurz nach der Unabhängigkeit 1961.

Im Zentrum stehen drei Figuren, die miteinander verbunden sind und alle in den Strudel der schauderhaften Entwicklungen ihrer Zeit geraten: Rassismus, Ausbeutung, Krieg, Völkermord. In auffälligem Kontrast zum dramatischen Geschehen bleibt Abdulrazak Gurnahs Sprache unaufgeregt-nüchtern.

Das Buch stellt die Afrikanerinnen und Afrikaner nicht ausschliesslich als Opfer dar, sondern zeigt, dass sie gelegentlich auch zu Tätern wurden: Etwa wenn sie sich den Truppen der Kolonialherren anschlossen, welche die Bevölkerung terrorisierten.

Der Roman zeigt zudem, wie sehr es den Imperialisten gelang, Menschen auch seelisch zu brechen: dass sie die vermeintliche Überlegenheit der Weissen zugeben. Darin liegt die grosse Qualität dieses Romans: Er dringt literarisch subtil zu tiefer liegenden Schichten des kolonialen Erbes vor, das bis heute nachwirkt.

Die Bücher erzählen aber auch von der universellen Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Geborgenheit. Und von der damals wie heute verbreiteten Hoffnung der Millionen von Ohnmächtigen des globalen Südens, im reichen Norden eine Zukunft zu finden.

Und die dann nur zu oft einen hohen persönlichen Preis bezahlen, wenn sie sich etwa Schleppern anvertrauen oder in der Fremde keine Wurzeln schlagen können. Der Mensch im globalen Chaos – das ist es, worum es Abdulrazak Gurnah geht.

Kindheit im «globalen Dorf»

Dabei schöpft der 1948 auf Sansibar geborene Autor in vielem aus eigenen Erfahrungen. In seiner Kindheit erlebte er eine Art Globalisierung im Kleinformat: «Sansibar war seit Jahrhunderten ein kultureller Schmelztiegel, in dem sich Menschen unterschiedlichster Herkunft und Prägung begegneten.» 

Dies habe in ihm schon früh einen Kosmopolitismus ausgeprägt. Mit 18 Jahren floh Gurnah aus dem korrupten und instabilen Tansania nach Grossbritannnien. Er erlebte am eigenen Leib, was es hiess, Migrant zu sein, auf sich allein gestellt, oft mehr geduldet als geliebt. «Ich kann mich aber an manche Britinnen und Briten erinnern, die mir beigestanden haben. Und die an mich geglaubt haben.»

Buchhinweis

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Abdulrazak Gurnah: Nachleben, aus dem Englischen von Eva Bonné, Penguin 2022.

Vom Geflüchteten zum Geehrten

Die Migration geriet für ihn zuletzt zur Erfolgsgeschichte: Studium, Karriere als Literaturwissenschafter, Professor, Schriftsteller, Nobelpreis.

Die hohe Auszeichnung, ändere nichts daran, dass seine Bücher die Welt nicht besser machen können: «Immerhin kann uns Literatur aber dabei helfen, die Umstände, in denen wir leben, besser zu verstehen. Und auch uns selbst.»

Sagt’s und verabschiedet sich. Freundlich und ernst. Der Auftritt vor Publikum steht an.

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Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Talk, 26.10.2022, 9:03 Uhr

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