Wieder einmal musste man zweimal hinhören, als der leichenblasse Sprecher der Schwedischen Akademie vor die Öffentlichkeit trat und den Namen verlas: Abdulrazak Gurnah. Im deutschen Sprachraum ist der Autor eher ein Geheimtipp.
Im angelsächsischen Sprachraum dagegen ist Abdulrazak Gurnah sehr angesehen. Dort lehrt er Literatur an der Universität von Kent in Canterbury. Seine Romane und Essays erscheinen in prestigeträchtigen Verlagen und in grossen Auflagen.
Überraschungssieger
Höchste Zeit, dass wieder einmal ein Autor vom afrikanischen Kontinent den Literaturnobelpreis erhalten hat. Der letzte Preisträger war der Südafrikaner J. M. Coetzee 2003, und davor haben erst Wole Soyinka (Nigeria), Nagib Mahfuz (Ägypten) und Nadine Gordimer die Auszeichnung erhalten.
Mit Abdulrazak Gurnah wird die zuletzt von Skandalen erschütterte Schwedische Akademie wieder verlässlicher und glaubwürdiger und löst das Versprechen ein, welthaltige und politische überzeugende Entscheidungen zu treffen.
In ihrer Begründung schreibt die Nobelpreis-Jury, Gurnah erhalte die Auszeichnung für seine «kompromisslosen und mitfühlenden Werke über die Auswirkungen und des Schicksals der Flüchtlinge».
Kluft zwischen den Kulturen
Tatsächlich sind Kolonialismus und Migration die zentralen Themen in Gurnahs Werken. Abdulrazak Gurnah wuchs auf der Insel Sansibar (Tansania) auf, die einst eine britische Kronkolonie war. Nach den gewalttätigen Revolutionswirren musste er in den 1960er-Jahren fliehen und fand schliesslich in Grossbritannien Exil.
Von den Erfahrungen eines Einwanderers erzählen seine in den 1980er-Jahren erschienenen Romane «Memory of Departure» (1987), «Pilgrim’s Way» (1988) und «Dottie» (1990) . Immer ist auch von rassistischen Spannungen und Fragen der Zugehörigkeit die Rede.
Gar in die Endauswahl für den angesehenen Booker-Preis kam Gurnahs 1994 veröffentlichter Roman «Das verlorene Paradies», der europäische und afrikanische Erzähltraditionen aufnimmt.
Brillanter Erzähler
Wie der koloniale Alltag konkret aussah in Ostafrika, vermag Abdulrazak Gurnah so plastisch zu vergegenwärtigen wie kaum ein anderer Autor. Da er selbst einst Flüchtling war, kann er Migrationsschicksale sehr authentisch und nuancenreich schildern.
Gurnah gilt als brillanter Erzähler, der eindringlich und mitunter mit feinem Sarkasmus zeigt, wie sich Identitätskonflikte in postkolonialen Zeiten bilden. Das demonstriert er nicht zuletzt im Roman «Die Abtrünnigen», der 2006 auf Deutsch erschien. Darin entsteht ein kolonialkritisches Panorama des 20. Jahrhunderts.
Wer Abdulrazak Gurnahs Werke liest, erfährt, wie Kolonialismus und Migration sich tief in die Köpfe und Seelen der Menschen gräbt und selbst im Alltag nie vergessen werden kann.