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Autor mit Doppelleben Einfälle aus Abfällen: Arno Geiger outet sich als Wühlmaus 

In «Das glückliche Geheimnis» enthüllt der österreichische Erfolgsautor Arno Geiger, dass er lange Jahre ein Doppelleben führte.

Arno Geiger ist ein grosser Name am österreichischen Literaturhimmel – und darüber hinaus. Sein neustes Werk «Das glückliche Geheimnis» ist autobiografisch. «Das ist meine Geschichte», sagt er.

Im Buch wartet Geiger mit Verblüffendem auf: Über 25 Jahre lang durchwühlte er in Wien in der Strasse stehende Altpapiercontainer – auf der Suche nach alten Büchern, Zeitungen und Briefen, die er nach Hause trug. Kistenweise.

Süchtig nach Abfall

Geiger schildert, wie er als junger Student eines Tages zufällig auf die Altpapier-Behältnisse im Quartier aufmerksam wurde. Sie entpuppten sich als regelrechte Schatzgruben. Kostenloser Lesestoff: Zeitungen, Sachbücher, Romane.

Arno Geiger

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Mann mit Glatze im schwarzen Pulli, schaut in Kamera. Schwarzer Hintergrund
Legende: Imago / Gerhard Leber

Der 54-jährige Arno Geiger ist unter anderem bekannt für seine Romane «Selbstporträt mit Flusspferd» oder «Unter der Drachenwand» . 2005 gewann er mit «Es geht uns gut» den Deutschen Buchpreis.

Der Autor begann mit regelmässigen Abfalltouren, meist in den frühen Morgenstunden. Sie gerieten zur Gewohnheit, zur Sucht. Zunehmend interessierten ihn persönliche Briefe, in denen wildfremde Leute in ihr Denken und Fühlen Einblick gaben. Die Briefe lieferten Inspiration für Romanfiguren.

Frei und ein bisschen schmutzig

Die heimlichen Abfalltouren boten aber auch eine Möglichkeit, aus seiner bürgerlichen Existenz auszubrechen. Für ein paar Stunden pro Woche «ein Vagabund» sein, «ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler, ein Niemand und weiter nichts». Auf der Strasse fühlte er eine Freiheit, die er nicht kannte.

Philosophin Catherine Newmark: «Ein Doppelleben öffnet Freiräume»

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SRF: Was lässt Menschen ein Doppelleben führen?

Catherine Newmark: Ein Doppelleben kann sich dann für jemand als nötig erweisen, wenn das, was man tun will, vom Umfeld moralisch nicht akzeptiert ist. Da kann es um Sexualität gehen oder etwa – wie im Fall von Arno Geiger – um eine Betätigung, die mit gesellschaftlicher Scham besetzt ist und deshalb nicht offen ausgelebt werden kann.

Was gibt das Doppelleben den Betroffenen?

Freiheit. Junge urbane Menschen in Grossstädten können heute so ziemlich alles ausleben und in ihrer Community offen darüber reden. Sie brauchen deshalb wohl kaum ein Doppelleben zu führen.

In einem gesellschaftlichen Umfeld mit rigideren Vorstellungen von Sitten und Gebräuchen hingegen öffnet das Doppelleben Betroffenen durchaus Freiräume.

Was ist der Preis dafür?

Es gibt sicher Fälle, bei denen Menschen in eine ungesunde Zerrissenheit geraten. Allerdings ist die Vorstellung falsch, dass wir etwas ganz Bestimmtes und Eindeutiges sind und zu sein haben.

Menschen haben meistens nicht nur eine Seite, sondern vereinen in sich ganz Unterschiedliches. Das Ich ist sehr vielfältig.

Das «eigentliche Ich» ist demnach eine Illusion?

Ja. Es handelt sich dabei um eine Vorstellung, die sich erst ab dem 18. Jahrhundert ausgeprägt hat, verbunden mit der Idee, dieses «eigentliche Ich» zu entdecken, zu entwickeln und so genannt authentisch zu sein.

Nur: Wer ist denn dieses «eigentliche Ich»? Das weiss niemand. Wir sind wohl doch vielmehr eine Sammlung von unterschiedlichen Rollen und Verhaltensweisen, die wir im jeweiligen Kontext spielen. Das ist der Normalfall.

Die Freiheit war zugleich eine körperliche Erfahrung: Die weitläufigen Runden durch die Stadt waren kräftezehrend: sich in die Behältnisse beugen, in sie abtauchen, sackweise Material schleppen. Beim Durchwühlen des Abfalls machte sich «der Mann der Schrift» schmutzig. Sein «Räuberzivil» tarnte ihn so sehr, dass ihn erstaunlicherweise nie jemand erkannte.

Ein prägendes Doppelleben

Arno Geiger verstand es, sein Geheimnis über die Jahre zu hüten. Er «spürte (…) Scham», weil er seine «sozialen Selbstansprüche» verletzte. Insbesondere seinen Eltern gegenüber. Sie werden im Laufe des Buchs alt und pflegebedürftig.

Ihnen gegenüber hatte Arno Geiger oft ein schlechtes Gewissen, hatten sie doch manche Opfer erbracht, damit er studieren konnte. «Dass ich mich jetzt Teilzeit in die Gosse warf, empfand ich (…) insgeheim als Grenzüberschreitung nach unten.»

An dieser und an manch anderer Stelle zeigt das Buch, wie sehr das Doppelleben Arno Geigers Biografie formte, in ganz unterschiedlicher Hinsicht. Nicht nur prägte es das Verhältnis zu den Eltern und beflügelte die Schriftstellerei. Es beförderte auch seine grosse Liebe. Sie allein wusste um die Touren. Und das gemeinsame Geheimnis verband.

Buch eines Lebens

«Das glückliche Geheimnis» ist ein wunderbares Buch, weil es vieles verbindet. Es erzählt von einem überaus eigenwilligen Doppelleben, von einem Sohn, der seine Eltern bis ins hohe Alter begleitet, von einem Liebenden, der die Frau seines Lebens findet und von einem Künstler, der seinen Weg sucht – und ihn auch dank Müll findet.

Es sei «wunderschön», gesteht Arno Geiger, «endlich über das Geheimnis schreiben zu können.» Das Erzählen sei dessen Abschluss: «Mich in aller Offenheit und auch aller Verwundbarkeit hinzustellen – darauf habe ich lange gewartet.»

Buchhinweis

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Arno Geiger: «Das glückliche Geheimnis». Hanser, 2023.

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Radio SRF 1, Buchzeichen, 10.01.2023, 20:03 Uhr.

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