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Autor Wilfried Meichtry Wallis-Roman «Nach oben sinken»: Wenn die Worte fehlen

Im Wallis der 70er-Jahre herrscht eine unerträgliche katholische Enge. Ein verträumter Jugendlicher versucht auszubrechen – und wühlt dabei Familiengeheimnisse auf.

Im Wallis gilt das Schweigen unter den Erwachsenen als das höchste Gebot, das merkt Wilfried Meichtrys namenloser Ich-Erzähler schnell. Das Kind wächst in den 70er-Jahren am «Hexenplatz» beim Oberwalliser Dorf Leuk auf.

Überall lauern Tabuthemen: Man ist angepasst, geht brav zur Messe und lässt sich nichts zuschulden kommen, das in der Gemeinde und bei den Ordensschwestern negativ auffallen oder – schlimmer noch – zu Gerede führen könnte.

Schon als Kind kommt der Protagonist zum Schluss, dass jeder Mensch ein «Sprechkonto» hat, von dem jedes einzelne Wort, das ihm über die Lippen kommt, abgezogen wird. Bei null angekommen, droht das endgültige Verstummen als Strafe.

Mann mit Brille, gemustertem Hemd und Halskette steht auf Weg und schaut nachdenklich
Legende: Wilfried Meichtry trat bisher vor allem mit sorgfältig recherchierten historischen Romanen in Erscheinung. Mit «Nach oben sinken» erzählt er nun eine Geschichte, die nahe an seiner eigenen Biografie ist. Samuel Lutz/SRF

Ein Ausweg aus der Enge bietet sich erst an, als der Bub am Familiengrab auf die Spuren einer entfernten Inschrift stösst. Nachdem er erfährt, dass diese zu einem rätselhaften Grossonkel gehört haben soll, ist seine Neugier geweckt. Doch das Schweigen, das er auf seine Nachfragen erfährt, übertrifft alles, was er bisher erlebt hat.

Flucht in die Fantasie

Also begibt sich der Junge selbst auf eine Spurensuche. Weil er sich nicht an die Verschwiegenheitsregeln der Dorf- und Familiengemeinschaft hält, haftet ihm bald das Etikett des verhaltensauffälligen Jugendlichen an, der es im Leben sowieso zu nichts bringen wird.

Seine Suche nach dem totgeschwiegenen Grossonkel, den er zu seinem «einzigen wahren Verwandten» hochstilisiert, ist dabei gleichzeitig eine Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Der Ausbruch aus dieser Enge ist aber kein Aufbruch in die weite Welt hinaus, sondern ein Aufbruch nach innen: in eine Welt aus Geschichten, inspiriert von den Erzählungen seiner Grossmutter und von Karl Mays Abenteuerromanen.

Wilfried Meichtry stammt selbst aus Leuk und hat das gleiche Gymnasium wie sein Protagonist besucht. Er macht keinen Hehl daraus, dass er in «Nach oben sinken» zumindest ein Stück weit seine eigene Geschichte erzählt: «Es liegt eine grosse Wahrhaftigkeit in dieser Geschichte. Die Grossmutter trägt sogar den echten Namen meiner Grossmutter.»

Ein beeindruckendes Stimmungsbild

Dennoch habe er nicht einfach seine Autobiografie geschrieben, betont Meichtry: «Ich hatte grosse Lust, auch einfach mal die Rosse der Fantasie loszulassen», erklärt der Historiker, der sonst vor allem für seine akribisch recherchierten Romane über historische Persönlichkeiten wie die Frauenrechtlerin Iris von Roten bekannt ist.

Filmhinweis

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« Verliebte Feinde » (2023)

Trotz aller Fantasie ist sein Roman ein beeindruckendes Stimmungsbild des Oberwallis in den 70er und 80er-Jahren. Der Autor sagt, er habe darin viele «Perlen» aus bisherigen Recherchegesprächen über die Region einflechten können. Diese fügen sich mit dem autobiografischen Teil der Geschichte nun zu einem grossen Ganzen zusammen.

Meichtry trifft den staunend-naiven Tonfall eines Heranwachsenden, ohne dieses Bild dabei zu verklären. Man liest hier gleichermassen die Emanzipationsgeschichte eines jungen Mannes von seiner Familie und ein Plädoyer dafür, familiäre Traumata nicht zu verschweigen.

Buchhinweis

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Wilfried Meuchy: «Nach oben sinken». Nagel & Kimche, Zürich 2023.

SRF 1, Tagesschau, 22.08.2023, 19:30.

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