Mit ihrer Autobiografie «Unorthodox» landete Deborah Feldman einen Volltreffer, der sogar das Interesse von Netflix weckte . Aber: Welche Bücher kann die gefeierte Autorin nicht aus der Hand legen?
SRF: Warum lesen Sie?
Deborah Feldman: Um der Welt verzeihen zu können – dass sie ist, wie sie ist.
Welches Buch erklärt am besten die Welt?
«Scham» von Annie Ernaux. Das hat mir gezeigt, dass Scham die ganze Gesellschaft bestimmt – und alle Menschen an ihrem Platz hält. Scham bestimmt unsere Verhaltensweisen und Entscheidungen. Wenn man das realisiert, sieht man die Welt mit anderen Augen. Wenn man sich irgendwann von Scham befreien kann, ist man wirklich frei.
Bei welchem Buch mussten Sie laut lachen?
«Die Verschwörung der Idioten» von John Kennedy Toole. Ein Buch über Amerika, das unaufhörlich lustig ist. Es sehr politisch und einfach geschrieben. Die Geschichte wird aus der Perspektive einer Spottfigur erzählt, die über sich selbst und über die Welt spottet. Wirklich einzigartig!
Ein Buch, das Sie immer wieder zur Hand nehmen?
«West und Östliches Gelände» von Czesław Miłosz. Ich komme immer wieder auf dieses Buch zurück und erfahre vieles, das für heute relevant wäre. Umso erstaunlicher, dass das Buch im Deutschen nicht mehr gedruckt wird. Denn es ist auch grossartig geschrieben. Ich kaufe es immer, wenn ich es irgendwo finde, und verschenke es weiter.
Miłosz hat 1980 den Nobelpreis gewonnen. Dieses Buch ist eine Mischung aus Memoiren, historischer Analyse und philosophischem Essay. Man erfährt viel über das Europa vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch über die heutige Zeit – denn manche Dinge gingen ununterbrochen weiter.
In welchem Buch finden sie Trost?
«Quaestio de Centauris», eine Kurzgeschichte von Primo Levi. Ich liebe Levi als Autor. Er kam zur Literatur aus einer unliterarischen Ecke, denn er war Chemiker und schrieb aus einem Gefühl der Dringlichkeit heraus. Seine Literatur hat Sprengpotential.
‹Denkwürdigkeiten eines Antisemiten› zeigt, dass der gefährliche Antisemitismus aus der alltäglichen Banalität und den gewöhnlichen Vorurteilen kommt.
In dieser einen Geschichte geht es für mich um Trost: Eigentlich ist sie eine Art Märchen über ein Wesen, halb Mensch, halb Tier. Eine Reflexion über Europa und seine Zerstörung. Wenn die Welt unterginge und ich eine Geschichte retten könnte, dann diese!
Ein gutes Buch über Antisemitismus?
«Denkwürdigkeiten eines Antisemiten», von Gregor von Rezzori. Das Kraftvolle an diesem Buch ist: Es zeigt gerade das, was die Leute eher als harmlosen Antisemitismus bezeichnen würden. Dadurch verdeutlicht es, dass der gefährliche Antisemitismus aus der alltäglichen Banalität und den gewöhnlichen Vorurteilen kommt.
Diese existieren heute genauso wie früher. Das Buch zeigt, dass der Antisemitismus gerade dort am stärksten verwurzelt ist, wo er gut versteckt und vielleicht nicht so zu erwarten ist.
Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?
«Birobidschan» von Tomer Dotan-Dreyfus! Ich finde das Buch sprachlich brillant und einzigartig. Ich habe es so genossen, in dieser Sprachwelt zu sein und wollte nicht, dass es aufhört. Ich dachte: Wenn ich nicht so schreiben kann – warum sollte ich überhaupt weiterschreiben? Ein schönes Neidgefühl!
Ein Buch, dem Sie mehr Leserinnen und Leser wünschen?
«Die grosse Reise» von Jorge Semprún: Eine Stimme über den Holocaust, die nicht jüdisch ist. Das ist wichtig, damit die Welt versteht, dass der Holocaust nicht nur Juden passiert ist – und wie leicht man selbst ins Visier kommen kann. Das Buch ist ausschweifend geschrieben, majestätisch. Auf eine Art, die inzwischen verloren gegangen ist.
Das Gespräch führte Markus Tischer.