«Die elfte Stunde» ist ein stehender Begriff. Er bedeutet soviel wie «auf den letzten Drücker» und steht für die letzten Momente des Tages bevor es dunkel wird, die Stunde also, in der die unerledigten Dinge noch erledigt werden müssen. So ist das wohl auch am Lebensende, wenn die letzte Stunde anbricht und man vor der Frage steht, wie man dem Tod entgegentritt.
Dieser Frage stellt sich auch Salman Rushdie in seinen neuen Erzählband. Erstens, weil er 78 Jahre alt ist, wie er in einem Interview mit CBS sagt, und zweitens, weil er im Zusammenhang mit der Messerattacke vom August 2022 «eine ziemlich intime Begegnung mit dem Tod» gehabt habe. Zum zweiten Mal übrigens. Das erste Mal war 1989, als er sich mit dem angeblich blasphemischen Roman «Die Satanischen Verse» einen Mordaufruf durch Ayatollah Chomeini eingehandelt hatte.
Jetzt, drei Jahre nach dem Attentat und anderthalb Jahre nach dem Tatsachenbericht «Knife», nimmt er das Thema Tod wieder auf und verarbeitet seine Gedanken dazu zu fünf neuen Erzählungen. Zu vollkommen unterschiedlichen Geschichten, die an den Orten spielen, an den Rushdie lebt und schon gelebt hat.
Alltägliche Situationen und absurde Geschichten
So gibt es die Geschichte über zwei alte Freunde in Indien. Ein Leben lang haben sie sich gestritten, bis einer von beiden stirbt. Jetzt weiss der andere nicht mehr, was er tun soll. Es gibt die Geschichte vom englischen Schriftsteller und Gelehrten einer englischen Eliteuniversität, der zum Gespenst wird und sich beim Direktor der Institution für vergangenes Unrecht rächt.
Und es gibt die Geschichte des Schriftstellers in den USA, der auf der Suche nach einem weiteren Schriftsteller nach Oklahoma kommt und feststellt, dass er plötzlich in einer anderen, nicht realen Wirklichkeit angekommen ist.
In seinen neuen Erzählungen bedient sich Rushdie denn auch seiner bewährten Stilmittel. Der magische Realismus, wo sich alltägliche Situationen zu absurden Geschichten entwickeln. Beispielsweise, wenn eine Sitar-Spielerin und Pianistin mit Musik Stürme auslöst.
Inspiriert und gedanklich brilliant
Ebenso typisch ist die Erzähltechnik mit ineinander verschachtelten Handlungen und Geschichten in den Geschichten. Die erinnern an die Art und Weise, wie die Märchen aus 1001 Nacht konstruiert sind. Das alles hat eine hohe Qualität. Und nicht zuletzt auch Humor, der genauso zu Rushdie gehört wie sein Weitblick.
Somit schliesst Rushdie mit seinen Erzählungen dort an, wo er wegen des Attentats unterbrechen musste. Die Inspiration ist ungebrochen, die gedankliche Brillanz auch. Sein Erzähltalent ist nach wie vor eine erstaunliche Quelle grosser Geschichten, die ihn zu dem Weltschriftsteller gemacht haben, der er seit Jahrzehnten ist. Bleibt zu hoffen, dass es bald schon wieder neue zu lesen gibt.