Ein groteskeres Fressgelage hat die Literatur kaum hervorgebracht: Ein todkranker Kommissär stopft sich in Gegenwart eines Polizistenmörders mit Sardinen, Krebsen und Aufschnitt voll. Er verschlingt Pasteten, Salate, Koteletts und Pommes frites, dazu leert er Glas um Glas Wein und Champagner.
Sein Gegenüber verfolgt das Schauspiel mit Entsetzen und begreift allmählich, dass der alte Kommissär sein Geheimnis längst durchschaut hat. Es ist das grandiose Finale eines Kriminalromans, in dem nicht nach einem Mörder gesucht wird, sondern nach einem Henker.
Auch wegen dieser Fressorgie ist «Der Richter und sein Henker» zum Klassiker geworden. Entstanden ist die Geschichte aus Geldnot. Mit Ende 20 war Friedrich Dürrenmatt knapp bei Kasse.
Der Auftrag der Zeitschrift «Der Schweizerische Bote» kam da gelegen: Für ein Honorar von 1000 Franken schrieb Dürrenmatt den Krimi, der zwischen Dezember 1950 und März 1951 in acht Folgen erschien. Es war der Auftakt zu seinem Welterfolg.
Der Krimi als Vorwand
Der Erfolg des Romans erklärt sich zunächst durch seine unterhaltsame Handlung: ein ermordeter Polizist, eine spektakuläre Wette und eine offene Rechnung zwischen Verbrecher und Kommissär, ein unerwartetes Ende. Alles, was ein guter Krimi braucht.
Und doch geht es in diesem Buch eigentlich um etwas anderes. Dürrenmatt nutzt die Krimihandlung als Köder, um die Leserinnen und Leser zu locken – und verhandelt dann jene Fragen, die ihn wirklich umtreiben: Darf Gerechtigkeit mit illegalen Mitteln hergestellt werden, wenn sie auf legalem Weg nicht zustande kommt? Wie kann ein Verbrechen vor den Augen der Öffentlichkeit geschehen, ohne Konsequenzen zu haben? Und wie reagiert eine Gesellschaft, wenn die Kategorien von Gut und Böse ins Wanken geraten? Bis heute diskutieren Schülerinnen und Schüler diese Fragen in Klassenzimmern – Dürrenmatts Kriminalroman fest in der Hand.
Vom Kultbuch zum Kultfilm
Manche Lesefaulen begnügen sich vielleicht auch mit einer der zahlreichen Verfilmungen, um bei der Deutschprüfung nicht durchzufallen. Die bekannteste Adaption stammt von Maximilian Schell und wurde dieses Jahr 50 Jahre alt.
Dürrenmatt selbst hat darin einen Auftritt in einer Nebenrolle. Er spielt einen exzentrischen Schriftsteller mit berndeutschem Akzent. Gedreht wurde auf Englisch: Die unfreiwillig komische Synchronfassung geniesst Kultstatus. Mit seinem 70er-Jahre-Look wirkt der Film heute aber etwas aus der Zeit gefallen.
Ganz anders der Roman. Ein Grund dafür sind Sätze wie diese: «Da stellen wir Menschen aus Angst voreinander Staaten auf, […] umgeben uns mit Wächtern jeder Art, mit Polizisten, mit Soldaten, mit einer öffentlichen Meinung; aber was nützt es uns? […] Ein Hohlkopf an der Spitze einer Grossmacht, und schon werden wir weggeschwemmt.» Als hätte Friedrich Dürrenmatt das Jahr 2025 vorausgesehen.
Kunst, wo sie niemand erwartet
Literatur, so Dürrenmatt, solle dort entstehen, wo man sie am wenigsten erwarte. Dass ihm dies im vermeintlich trivialen Genre des Kriminalromans meisterhaft gelungen ist, beweist «Der Richter und sein Henker».
Es ist ein Krimi für alle, die keine Krimis mögen. Und auch wer schlicht gut unterhalten werden will, kommt auf seine Kosten – allein schon wegen eines der denkwürdigsten Fressgelage der Weltliteratur.