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Deutscher Buchpreis 2021 Warum «Die blaue Frau» das «Buch der Stunde» ist

Antje Rávik Strubel gewinnt den Deutschen Buchpreis für ihren Roman über Struktur und Folgen sexueller Gewalt. Die richtige Wahl, sagt SRF-Literaturredaktorin Nicola Steiner.

Der beste deutschsprachige Roman des Jahres steht fest: «Blaue Frau» von Antje Rávik Strubel wird mit dem Deutschen Buchpreis 2021 prämiert. Dies gab der Börsenverein des Deutschen Buchhandels am Montagabend bekannt. Der Preis ist mit 25'000 Euro dotiert.

«Toxische Machtstrukturen» – Nicola Steiner über «Die blaue Frau»

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Nicola Steiner
Legende: SRF / OSCAR ALESSIO

SRF: Was ist das für ein Buch?

Nicola Steiner: «Blaue Frau» erzählt die Geschichte einer jungen Frau namens Adina. Sie kommt aus dem tschechischen Riesengebirge, lebt jetzt aber zurückgezogen in Helsinki. Man weiss schnell: Dieser Adina ist irgendetwas zugestossen.

Die Erzählerstimme legt retrospektiv ihre Geschichte frei: Adina ging wenige Jahre nach der Wende in den Osten Deutschlands, machte in einem Kulturhaus ein Praktikum und wurde von einem westdeutschen Kulturpolitiker brutal vergewaltigt.

Weil ihr niemand glaubt, verliert sie den Boden unter den Füssen. Sie flieht vor dem Geschehen und sich selbst und landet nach einer Irrfahrt in Helsinki, wo sie einen estnischen EU-Abgeordneten kennenlernt, der sich in sie verliebt.

Während der sich für die Menschenrechte stark macht, sucht Adina einen Ausweg aus ihrem inneren Exil. «Blaue Frau» ist also ein Roman über Grenzen und Grenzüberschreitungen, ein Buch über sexuelle Gewalt und die Machtverhältnisse zwischen Ost und West.

Sechs Bücher standen auf der Short für den Deutschen Buchpreis. Weshalb hat ausgerechnet «Die blaue Frau» gewonnen?

In gewisser Weise ist es das Buch der Stunde. Antje Rávik Strubel hat ihren Roman, an dem sie acht Jahre lang arbeitete, zwar vor der MeToo-Debatte begonnen. Aber sie zeigt bis ins Kleinste, was sexuelle Gewalt anrichten kann.
Und dass sie nicht nur eine individuelle Erfahrung ist, sondern strukturell angelegt.

Diese Gewaltstruktur verbindet Rávik Strubel in ihrem Roman mit politischen Strukturen. Dem Gefälle zwischen Ost und West etwa.

Wie macht sie das sprachlich?

Manchmal leuchtet es grell, dann wieder zart wie ein Gedicht die Facetten der Welt seiner Protagonistin aus.

«Die blaue Frau» ist ein Buch von einer grossen sprachlichen Kraft. Überdies eines, das verschiedene Erzählformen und Ebenen mischt: vom inneren Monolog über den Bericht über die Szene, die Recherche oder die Naturbeschreibung. Ein multiperspektivisches Roadmovie also.

Leichte Lektüre ist das nicht, aber oft ist das ja ein Grund mehr, es zu lesen.

Verraten Sie uns noch, wer «Die blaue Frau» ist?

Es ist nicht Adina, die Protagonistin, wie man vermuten würde, sondern eine Art Persona, die der Autorin beim Schreiben plötzlich erschien.

Antje Rávik Strubel hat in Interviews immer wieder betont, dass es nicht einfach sei, über sexuelle Gewalt zu schreiben – entweder sei da blinde Wut oder unzulässiges Klischee, auf jeden Fall sei es ein ungeheuer sensibles Thema, um das man nur herumschreiben könne.

Jedenfalls war die blaue Frau plötzlich da, setzte sich gleichsam zu Antje Rávik Strubel an den Schreibtisch und bot sich ihr als Sparring-Partnerin an. Blau für Tinte, fürs Schreiben, fürs Zeugnis ablegen. Da hält die Handlung plötzlich inne.

So ist diese blaue Frau Teil, manchmal auch Katalysator eines Buches, das versucht, eine Sprache zu finden für die Folgen toxischer Machtstrukturen. Ein Buch, das anschreibt gegen aufgezwungene Sprachlosigkeit.

Eine Arbeit von «existenzieller Wucht»

In ihrem Roman schildert Antje Rávik Strubel die Flucht einer jungen Frau vor ihren Erinnerungen an eine Vergewaltigung. Die Autorin behandle das Thema «mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision», urteilte die Jury.

«In einer tastenden Erzählbewegung gelingt es Antje Rávik Strubel, das eigentlich Unaussprechliche einer traumatischen Erfahrung zur Sprache zu bringen», liess die Jury weiter verlauten.

Strubel, 1974 in Potsdam geboren, machte zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Später studierte sie Psychologie und Literaturwissenschaft. Sie lebte unter anderem in Schweden, bevor sie wieder nach Potsdam zurückkehrte.

Christian Kracht ohne Preis

Ebenfalls nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021 war der Schweizer Autor Christian Kracht. Dieser sorgte kürzlich für Aufsehen, als er seine Nomination für den Schweizer Buchpreis 2021 zurückzog.

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