Dmitrij Kapitelman ist ein deutschsprachiger Schriftsteller, Journalist und Musiker mit ukrainischen Wurzeln. In seinem neuen Roman «Russische Spezialitäten» erzählt er herzergreifend komisch eine Familiengeschichte, die autobiografisch grundiert ist. Und im Interview mit SRF, wie die Eltern einen «russischen» Laden in Ostdeutschland betrieben und warum die Mutter zur glühenden Putin-Anhängerin wurde.
SRF: 1995 kamen Sie von Kiew nach Leipzig. Wie war das?
Dmitrij Kapitelman: Wir kamen als jüdische Kontingentflüchtlinge, mit dem Versprechen, dass wir hier in Sicherheit sind. Im Plattenbau lebten wir dann aber neben Menschen, die «Rudolf Hess ist ein Volksheld»-Sticker an der Tür hatten und jeden Freitag Nazi-Partys feierten. Es war hart, aber als Kind für mich normal. Ich wurde übrigens nie als Scheiss-Ukrainer beschimpft. Wir waren immer nur die Scheiss-Russen. Man hat nicht differenziert.
Heimat, Identität, Sprache sind wichtige Themen in Ihrem Roman. Wobei Grenzen oft verschwimmen, angefangen beim ukrainisch geführten Laden. Warum heisst er «Russische Spezialitäten»?
Viele Produkte, die da verkauft werden, sind tatsächlich weder kulturell aus Russland, noch sind sie dort produziert. Und auch niemand, der in diesem Geschäft arbeitet, kommt aus Russland. Aber die Sprache ist russisch. Und es war in der Nachwendezeit immer noch normal, alles, was aus der ehemaligen Sowjetunion kam, als russisch zu überschreiben.
Russisch ist eine der beiden Hauptsprachen in der Ukraine. Es ist Ihre Muttersprache. Was an ihr treibt Sie um?
Sie steht für Brüche. Im ersten Teil des Romans müssen sich die Figuren mit einem neuen Land und neuen Systemen arrangieren. Im zweiten Teil geht es um den Krieg in der ehemaligen Heimat. Der Erzähler besucht Freunde in Kiew. Zum Beispiel ein älteres Paar, das Ukrainisch lernt, um nicht mehr Russisch sprechen zu müssen. Oder den Sandkastenfreund, der das Russische respektive das Argument «Unsere Sprache, unser Land» für die Invasion verantwortlich macht. Es liegt also eine Schuld in meiner Muttersprache, und ich weiss nicht mehr, wo und mit wem ich sie legitim sprechen soll. Dieses Zerbrechen von Selbstverständlichkeiten hat mich beim Schreiben sehr interessiert.
Der grösste Bruch in «Russische Spezialitäten» ist, dass sich die Mutter im Exil unbeirrbar russischer Propaganda zuwendet. Was bringt sie dazu?
Es war kein politischer Akt. Das russische Staatsfernsehen kam in ihre Küche, weil sie Krimiserien vermisste. Als die Satellitenschüssel gekauft wurde, gab es noch keinen Putin. Es gab auch noch richtigen Journalismus und richtige Nachrichten und Meinungsvielfalt in Russland.
Gibt es Anhaltspunkte, warum die Mutter sich radikalisierte?
Während eines Streits fragt der Sohn die Mutter einmal, warum sie all ihre Frustration nur an der Ukraine abschmiere. Sie antwortet, dass ihr Russland scheissegal sei, dass sie die Ukraine von vor dreissig Jahren zurückwolle.
Da setzt die Propaganda an: ‹Wir geben euch die Zeit zurück, die es nie gab.›
Von diesem Satz gehen mehrere Pfade ab. Es geht zum Beispiel um Nostalgie. Ich glaube jedenfalls nicht, dass sie die katastrophalen Lebensbedingungen in der Ukraine oder den löchrigen Sarkophag von Tschernobyl zurückhaben wollte. Und vor ungefähr dreissig Jahren emigrierte sie ja. Ihre Aussage ergibt also auch biografisch keinen Sinn. Aber da setzt die russische Propaganda halt an, wenn behauptet wird: «Wir geben euch die Zeit zurück, die es nie gab.»
Das Gespräch führte Franziska Hirsbrunner.