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Ein Nationalheld, neu gesehen Die «Tell»-Sage mit einem Schuss Tarantino

Joachim B. Schmidt räumt mit dem Schweizer Gründungsmythos auf und macht aus dem Originalstoff einen Krimi, der knallt.

Wer die Tell-Geschichte bereits zu kennen meint, wird nach der Lektüre dieses Buchs eine andere Vorstellung von Tell, Gessler & Co. haben. Denn der Schweiz-isländische Schriftsteller Joachim B. Schmidt modernisiert die Sage, indem er sie so schildert, wie sie sich hätte ereignen können.

Zu diesem Zwecke dichtet er hinzu, überrascht mit neuen Wendungen und sorgt für Tempo mit schnellen Sequenzen, die aus nicht weniger 20 als verschiedenen Perspektiven geschrieben sind.

Ein Gemälde im Tell-Museum in Bürglen zeigt die Szene mit Tells Sprung aus dem in Seenot geratenen Nauen.
Legende: Den Sprung auf die Tellsplatte gibt es Joachim B. Schmidt so nicht. In seinem Roman kentert das Boot. Tell entwischt, weil er als einziger ein guter Schwimmer ist. KEYSTONE/Gaetan Bally

Krimi-Potential

Es gibt keine historisch gesicherten Quellen, die Tells Existenz beweisen. Tell ist eine Sagengestalt, die als Freiheitskämpfer im 13. und 14. Jahrhundert gelebt haben soll. Die älteste Überlieferung der Tell-Geschichte findet sich im «Weissen Buch von Sarnen», das um 1470 entstanden ist.

Auch Joachim B. Schmidt folgt wie Schiller dem überlieferten Original-Stoff. Er weist Spannungselemente auf. Und die sind so gut, dass der Autor daraus spielend einen Kriminalroman bauen kann.

Da wären etwa die erste brenzlige Begegnung von Gessler und Tell in den Bergen, der verweigerte Gruss des Habsburger-Huts auf der Stange und der gefährliche Apfelschuss. Da sind die Verhaftung, die abenteuerliche Bootsüberquerung des Vierwaldstättersees bei Sturm und der Meuchelmord in der Hohlen Gasse.

Showdown mit Schneeflocken

Den Mord beschreibt Joachim B. Schmidt in einem sensationellen Showdown wie in einem Tarantino-Film. «Die Schneeflocken, ich sehe sie alle, jede einzelne, ich könnte sie zählen, wenn ich wollte.»

«Der Bolzen», so heisst es weiter, «kommt direkt auf mich zu, spaltet die Flocke, die in seiner Flugbahn liegen. Doch ich weiche aus, drehe mich geschwind ab – und mache es doch nicht schnell genug.» Und das ist erst der Anfang vom Ende.

Die Demontage eines Mythos

Aber «Tell» ist weit mehr als eine spannungsgeladene Kriminalgeschichte. Joachim B. Schmidt trägt den politischen und sozialen Begebenheiten der Innerschweiz im 13. Jahrhundert Rechnung und zeichnet damit ein glaubwürdiges Bild, wie es sich unter der habsburgischen Besatzungsmacht leben liess.

Joachim B. Schmidt demontiert den Tell-Mythos, indem er seine Figuren als Menschen zeichnet und nicht als Helden. Ihre Motivation und ihr Handeln sind von individuellen und situationsbezogenen Einflüssen geprägt.

Ein bisschen plakativ

Tell selbst wird als hitzköpfiger, grobschlächtiger Bergbauer dargestellt, der an einem Trauma leidet. Der zierlich-elitäre Landvogt Gessler macht Fehler, weil er seinem Vollstrecker Harras zu grosse Entscheidungskompetenz überlässt. Und Harras wiederum ist ein brutaler, treuloser Sadist. Sein böses Tun wiegelt die gebeutelten Innerschweizer gegen die Habsburger auf.

Doch gerade die Figurenzeichnung Tells als Grobian und Sturkopf, Muttersöhnchen und Missbrauchsopfer hätte man sie sich auch etwas weniger plakativ wünschen dürfen. Allzu offensichtlich will der Autor den Schweizer Nationalhelden vom Sockel holen.

Buchhinweis

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Joachim B. Schmidt: «Tell». Diogenes, 2022.

Podcast «Literaturclub: Zwei mit Buch», 25.02.2022, 14:03 Uhr

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