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Erster Weltkrieg Als Deutschland den Dschihad provozieren wollte

Ein historischer Roman erzählt von einer wenig bekannten Geheimaktion der Deutschen im Orient.

Ein gigantisches Aufgebot von Soldaten, Millionen von Kanonen und Granaten, Giftgas: Im Ersten Weltkrieg liessen die damaligen Grossmächte kaum etwas unversucht, um die gegnerischen Linien im mörderischen Stellungskrieg zu durchbrechen.

Wenig bekannt ist, dass die Deutschen gar die Absicht hatten, in der muslimischen Welt einen Dschihad anzuzetteln, um das Kriegsglück in Europa zu ihren Gunsten zu wenden.

Jakob Heins Roman «Die Orient-Mission des Leutnant Stern» zeichnet diese Geheimoperation historisch präzise und mit literarischer Eleganz nach.

Deutscher Journalist mit Geheimauftrag

Im Zentrum steht Edgar Stern. Er ist historisch verbürgt: ein deutscher Journalist, der kurze Zeit an der Westfront kämpfte, jedoch schon wenige Wochen nach Kriegsausbruch nach Berlin gelangte. Dort erhielt er von der deutschen Reichsregierung den Auftrag, an der Durchführung eines teuflischen Plans mitzuwirken.

Buchhinweis

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Jakob Hein: «Die Orient-Mission des Leutnant Stern». Galiani, 2018.

Mehmed V., der Sultan des befreundeten Osmanischen Reichs in Konstantinopel, sollte angestachelt werden, den Dschihad auszurufen.

In der Folge – so das deutsche Kalkül – würden sich die Muslime in den britischen und französischen Überseegebieten gegen ihre Kolonialmächte erheben.

Von Marokko bis Indien würden die deutschen Kriegsgegner Frankreich und Grossbritannien in blutige Gefechte verwickelt. Und auf dem europäischen Schlachtfeld würde für das Deutsche Reich der Weg frei zum Sieg.

Der Plan sah vor, den Dschihad zusätzlich zu befeuern, indem man als Zeichen der angeblichen Verbundenheit des Deutschen Reichs mit den Muslimen in aller Welt ein gutes Dutzend muslimischer Kriegsgefangener freiliess – in Konstantinopel, unmittelbar im Anschluss an den Dschihad-Aufruf.

Als Zirkustruppe getarnt

Edgar Sterns Aufgabe bestand darin, die Gefangenen in der Eisenbahn nach Konstantinopel zu schleusen. Die Sache war brandgefährlich. Die Reise führte über Österreich-Ungarn, Rumänien, Bulgarien und damit teilweise durch feindliches Gebiet.

Schwarzweiss-Fotografie eines Eisenbahnwagens mit der Aufschrift «Berlin-Konstantinopel»
Legende: Per Eisenbahn brachte Edgar Stern muslimische Kriegsgefangene ins Osmanische Reich. Imago / United Archives

Damit die Operation nicht aufflog, tarnte Stern die Gefangenen kurzerhand als Zirkustruppe. Jakob Hein schildert Edgar Stern als einen mit allen Wassern gewaschenen Draufgänger. Tollkühn. Ein Tausendsassa. Die ideale Besetzung für die Leitung der Geheimmission.

Aus der Sicht der Marokkaner

Den Roman zeichnet aus, dass er sich nicht auf die Perspektive von Stern und der europäischen Strippenzieher beschränkt. Vielmehr gibt Jakob Hein auch den unglückseligen Marokkanern eine Stimme. Die Franzosen hatten sie in ihrer Heimat zwangsrekrutiert, in französische Uniformen gesteckt und in Europa an die Front geschickt.

Irgendwann gerieten sie in deutsche Kriegsgefangenschaft. Und nun verfrachtete sie Edgar Stern wie Mobiliar durch halb Europa. Wieder waren sie blosses Menschenmaterial – missbraucht von einer europäischen Grossmacht für deren ureigene Interessen.

Der Aufruf zum Dschihad

Der Roman erzählt, wie die Orient-Mission erstaunlicherweise lange Zeit wie am Schnürchen verlief. Die vermeintliche Zirkustruppe mit Edgar Stern erreichte Konstantinopel wohlbehalten.

Mehmed V. rief in der Fatih-Moschee zum heiligen Krieg aller Muslime gegen die gottlosen Briten und Franzosen auf. Die marokkanischen Gefangenen kamen in einer öffentlichen Zeremonie frei. In den Strassen der türkischen Hauptstadt herrschte Volksfeststimmung.

In den Tagen und Wochen danach folgte aber die Ernüchterung. Der Dschihad-Aufruf verhallte ohne Echo. Der Sultan wurde nicht gehört. Seine Autorität erwies sich in der geografisch weitläufigen und von ganz unterschiedlichen religiösen Strömungen geprägten muslimischen Welt als gering.

Schwarzweiss-Fotografie von brennenden Gebäuden
Legende: Konstantinopel in Flammen: Die Orient-Mission der Deutschen scheiterte. Getty Images

Die Orient-Mission geriet zum peinlichen Flop. Die Deutschen hatten sich verschätzt. Und ihr Plan erwies sich als Zeugnis dafür, wie spektakulär gross in Europa das Unwissen über die Kultur der Muslime war.

Damit lässt sich Jakob Heins Roman nicht nur als historischen Abenteuerroman lesen, sondern auch als ein Lehrstück über den Umgang des Westens mit der muslimischen Welt.

«Eine so faszinierende Geschichte musste ich einfach erzählen»

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Porträtbild des Autors Jakob Hein
Legende: Imago / Gerhard Leber

SRF: Jakob Hein, was hat Sie verlockt, diesen Stoff aufzugreifen?

Jakob Hein: Als ich zufälligerweise auf die Geschichte stiess, hatte ich das Gefühl, dass sie auf mich gewartet hatte. Eine dermassen faszinierende Geschichte musste ich einfach erzählen. Sie schien wie für mich gemacht. Da war einfach alles dran, was eine gute Geschichte ausmacht.

Mögen Sie Edgar Stern? Immerhin lässt er sich ja vor den Karren der deutschen Kriegsmaschinerie spannen …

Edgar Stern war ein deutscher Patriot. Das war damals noch nicht anrüchig. Aber er war nicht blutrünstig. Er bevorzugte es zu denken, anstatt im Schützengraben zu kämpfen. Und dies macht ihn mir durchaus sympathisch. Zudem zielte der Dschihad-Plan ja auch darauf ab, den Krieg zu verkürzen.

Sie schildern auch die Sicht der muslimischen Gefangenen. Wie wichtig sind sie Ihnen als Figuren in Ihrem Roman?

Sehr wichtig. Nachdem ich das Buch in seinen Grundzügen fertig hatte, merkte ich plötzlich, dass ich in dieselbe Falle getreten war wie alle anderen, die vor mir zu diesem Thema etwas publiziert hatten: Auch ich hatte nur die Perspektive des weissen europäischen Mannes geschildert. Also versuchte ich zu recherchieren, wer denn diese Marokkaner waren, die von den Europäern herumgeschoben wurden. Ich fand einiges heraus und liess es in den Roman einfliessen. Erst in dieser doppelten Perspektive wird der Irrsinn sichtbar, der hinter dieser Orient-Mission steckte.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 18.7.18, 09:02 Uhr

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