Martha wohnt in der Stadt, in Frankfurt – Johanna auf dem Lande, im Schwarzwald. Die zwei Freundinnen kennen sich seit Kindheitstagen und sind sich gegenseitig die Nächsten. In ihrer Korrespondenz kennen sie keine Tabus. Alles wird angesprochen, und wenn die eine wieder einmal den Boden unter den Füssen zu verlieren droht, hilft die andere mit Zuspruch und Ermutigung.
«Die Kinder saugen mich aus»
Martha hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Sie ist Schriftstellerin, schreibt vor allem Lyrik. Aber seit der Geburt ihrer Kinder, fehlt ihr der nötige Freiraum für die Kunst. Wenn sie ein paar Stunden für sich freigeschaufelt hat, fallen ihr vor lauter Erschöpfung die Augen zu. «Die Kinder saugen mich aus», klagt sie in einem Mail an ihre Freundin.
Auch Johanna hadert mit ihrem Schicksal. Ihr Freund Markus, mit dem sie vielleicht eine Familie gründen wollte, hat sie – nach 14 Jahren – wegen einer anderen verlassen. Sie hat eine Krebsbehandlung hinter sich, arbeitet als Gymnasiallehrerin und recherchiert zu ihrer Dissertation über Annette von Droste Hülshoff. «Hätte ich Kinder, wäre es einfacher. Ich müsste jedenfalls nicht immer um mich selber kreisen.»
Gespenster der Vergangenheit
Die zwei Frauen sind beide Anfang vierzig und wissen, dass etliche Weichen schon definitiv gestellt sind. Gespenster der Vergangenheit wabern durch ihre Träume; gleichzeitig drücken Sehnsüchte, die das Herz schwer machen. Lebensmitte bedeutet, eine erste Bilanz zu ziehen. Und das tun Martha und Johanna in diesem Roman. Sie versichern sich gegenseitig: «Schlafen werden wir später.» Noch gilt es, wachsam zu bleiben und Chancen zu packen.
Selbstzweifel und Sackgassen
Ganz nach dem Muster des klassischen Briefromans erschliessen sich dem Leser, der Leserin nach und nach die unterschiedlichen Lebenswelten der Freundinnen.
Wir tauchen tief in die jeweiligen Seelenzustände ein; lesen von Selbstzweifeln und Sackgassen, aber auch von Glück und Heiterkeit. Wir wandern mit den Frauen durch Frühling, Sommer, Herbst und Winter, erfreuen uns am Schwimmen im Meer oder am Schneefall im Schwarzwald. Die Natur spielt für beide eine zentrale Rolle.
Autobiografische Züge?
Auf den ersten Blick ahnt man hinter der Figur Martha die Autorin selber. Auch Zsuzsa Bánk hat – wie Martha Horvath – ungarische Wurzeln, lebt in Frankfurt; auch sie kennt die ständige Überforderung, als Mutter mit kleinen Kindern auch noch literarisch tätig sein zu wollen. Im Rückblick staunt sie selber, wie sie beide Rollen hatte unter einen Hut bringen können.
Trotzdem wehrt sich die Deutsche gegen die Vermutung, sie habe sich da selber porträtiert. Martha sei nicht weniger fiktiv als Johanna. Und eigentlich entspreche ihr die nüchterne, pragmatische Art von Johanna sogar noch mehr als die emotionale Martha. Sie habe sich jeweils gefreut, als Johanna auf die Nachrichten von Martha reagieren zu können.
Zsuzsa Bánk hat genau so lange an diesem Roman gearbeitet wie der Mailaustausch der Freundinnen dauert: etwas länger als drei Jahre. Sie sei von Monat zu Monat tiefer in die Lebenswelten der Frauen eingedrungen, habe die Handlung und die Figuren laufend weiterentwickelt und sich mal in die eine, dann wieder in die andere hineingefühlt.
Hohe sprachliche Qualität
Die grosse Stärke dieses Buches ist die Sprache. Martha schreibt in blumigen, barocken Sätzen, spielt mit Worten, erfindet Ausdrücke, während Johanna sich in ihren Formulierungen eher zurücknimmt, aber auch gerne literarische Zitate ihrer Freundin oder von Annette Droste von Hülshoff einfliessen lässt.
Wie schon in ihren früheren Romanen «Der Schwimmer» oder «Die hellen Tage», für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde, stellt Zsuzsa Bánk auch hier ihr grosses Gespür für Wort-und Sprachschöpfungen unter Beweis. Sie gibt dem Text dadurch eine spielerische Leichtigkeit, die wohl letztlich dem Roman Tempo gibt und die Lektüre zum Genuss werden lässt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 9.4.2017, 11:03