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Wenn Rassismus ein Leben zerstört: «Geschichte eines Kindes» von Anna Kim
Aus Literaturclub: Zwei mit Buch vom 07.10.2022. Bild: SRF / Oscar Alessio
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«Geschichte eines Kindes» Ein Säugling wird Opfer seiner Hautfarbe

In ihrem Roman «Geschichte eines Kindes» verwendet Anna Kim einen originalen Text: Die Akte eines Säuglings namens Danny, der Anfang der 1950er-Jahre in einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA nach anthropologischen Ansätzen vermessen wurde, die noch aus der Nazizeit stammten.

Die österreichische Autorin mit asiatischen Wurzeln verknüpft diesen historischen Text mit der Gegenwart und mit ihren eigenen Erfahrungen.

Anna Kim

Anna Kim

Schriftstellerin

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Die Autorin Anna Kim studierte in Wien Philosophie und Theaterwissenschaft. 2004 erschien ihr erster Roman «Die Bilderspur». Seither hat sie eine Reihe von Romanen veröffentlicht, unter anderem «Die grosse Heimkehr» oder «Die gefrorene Zeit», der mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet wurde.

Kim wurde in Korea geboren, lebte in ihrer frühen Kindheit erst in Deutschland und seit 1984 in Wien.

SRF: Wie sind Sie auf Dannys Akte gestossen?

Anna Kim: Mein Mann kommt aus dieser Kleinstadt und bekam die Akte von Danny selbst. Er gab sie an mich weiter, weil ich schon einige Bücher schrieb, die auf wahren Begebenheiten beruhen.

Danny wurde von seiner jungen Mutter zur Adoption freigegeben, über den Vater schweigt sie eisern. Als immer offensichtlicher wird, dass das Kind nicht weiss ist, gerät es in eine bizarre Mühle der Begutachtung. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die originale Akte erstmals lasen?

Einerseits war ich sehr schockiert, denn das Vokabular der Akte ist extrem rassistisch. Andererseits, und das war vielleicht der Auslöser dafür, dass ich diesen Roman überhaupt schreiben wollte, hat mich die Art und Weise, wie der Säugling beschrieben wird, an meine Kindheit erinnert. Ich habe südkoreanische Wurzeln, und Beschreibungen meines Aussehens begleiten mich schon ein Leben lang.

Von Geburt an wurde über Danny verfügt, war er ein Objekt.

Auch sprachlich fand ich die Akte hochinteressant. Das rassistische Vokabular von damals existiert heute nicht mehr. Der Rassismus selbst ist in ähnlicher Intensität aber immer noch vorhanden. Wir drücken ihn nur anders aus, verstecken ihn, sagen zum Beispiel «Kultur» statt «Rasse». Rassismus sprachlich so offengelegt zu lesen, hat mich auch fasziniert.

Davon handelt «Geschichte eines Kindes»

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Im neuen Roman der 45-jährigen österreichischen Autorin Anna Kim geht es um den wahren Fall eines Babys, das 1953 im Mittleren Westen der USA geboren und sofort zur Adoption freigegeben wurde.

Im Krankenhaus stellte man bald fest, dass die Haut des Kindes immer dunkler wurde. Weil die Mutter jegliche Auskunft zum Vater verweigerte, untersuchte man das Kind drei Jahre lang nach den Regeln einer Anthropologie, die noch aus der Nazizeit stammte.

In der Akte finden sich Sätze wie: «Die Merkmale des Wirtsvolks sind in seinem Fall stark ausgeprägt, das Negride schimmert aber durch.»

So wird Danny aufgrund seiner «falschen» Hautfarbe nicht nur als Säugling, sondern lebenslang angeschaut. Was das mit einem Menschen macht, erzählt Anna Kim in ihrem für den österreichischen und den deutschen Buchpreis nominierten Roman.

  • Anna Kim: «Geschichte eines Kindes». Suhrkamp Verlag, 2022.

Es fällt auf, dass Ihr Roman voller Ambivalenzen ist. Keine Figur in «Geschichte eines Kindes» ist ohne Widersprüche.

Das stimmt, und gilt insbesondere für die Mütter im Roman. Dannys Mutter zum Beispiel wirkt in der Art, wie sie sich wehrt, den Namen des Vaters zu nennen oder sich um ihr Kind zu kümmern, sehr unsympathisch.

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«Geschichte eines Kindes» von Anna Kim
Aus Literaturclub vom 30.08.2022.
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Aber sie ist ja noch sehr jung, sie weiss, dass sie unter den gesellschaftlichen Umständen, in denen teils noch Rassentrennung herrschte, ihr Kind nicht behalten kann. Wenn man genauer hinschaut, macht sie also eigentlich etwas Vernünftiges: Sie versucht, keine Verbindung aufzubauen.

Dieses Verbindungslose prägt Ihren Roman: Beziehungen sind durchwegs schwierig. Man redet über- statt miteinander. Und Danny redet gar nicht. Warum?

Ich wollte, dass er nicht greifbar wird. Er sollte den ganzen Roman über eine Art Gespenst bleiben. Von Geburt an wurde über ihn verfügt, war er ein Objekt. Das ist für mich das deutlichste Zeichen für Ausgrenzung. Das wollte ich nicht nur inhaltlich, sondern auch literarisch zeigen. Deshalb kommt Danny selbst nie zu Wort.

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«Geschichte eines Kindes» erzählt vom Schaden, den Rassismus im Leben eines Menschen anrichten kann. Aber würde sich Danny selbst als Opfer sehen, wenn er denn spräche?

Ich weiss es nicht. Ich habe die Form und den Aufbau der Akte, dieses Ausmessen des Säuglings, das letztlich ins Leere führt, als Vorlage für die Rahmenerzählung genommen. Auch diese führt ins Leere. Es gibt keine Auflösungen.

Ich kann mich erinnern, wie sehr ich mir beim Lesen der originalen Akte alles Mögliche vorstellte. Ich habe in alle Richtungen überlegt und nachgedacht. Das sollen auch die Leserinnen und Leser tun können.

Das Gespräch führte Franziska Hirsbrunner.

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Radio SRF 2 Kultur, Literaturclub: Zwei mit Buch, 10.10.2022, 18:30 Uhr.;

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