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Gottfried-Keller-Preis «Gottfried Keller hat wirklich das Leben studiert»

Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann erhält heute zusammen mit Adolf Muschg den Gottfried-Keller-Preis. Zu Keller hat er eine ganz besondere Beziehung.

Thomas Hürlimann kann ganz genau sagen, wann er den Dichter Gottfried Keller zum ersten Mal entdeckt hat. Er war 24 Jahre alt und lebte in Berlin. Hürlimann, 1950 geboren und in Zug aufgewachsen, musste der Schweiz den Rücken kehren, um – wie er selber sagt – freier atmen zu können. Sein Vater war damals Bundesrat.

Abgetippte Buchseiten

Es war die Karl Marx Buchhandlung in Ostberlin, wo Thomas Hürlimann auf ein ganzes Regal mit Gottfried Keller Büchern stiess. Er kaufte den «Grünen Heinrich», ging nach Hause und hörte nicht mehr auf zu lesen. Seine Begeisterung für diesen grossen Bildungsroman des 19. Jahrhunderts war so gross, dass er anfing, ganze Seiten aus dem Buch abzutippen.

Gedankenlos liess er die fünf Blätter neben seiner Schreibmaschine liegen. Auf deren Wirkung war er allerdings überhaupt nicht vorbereitet.

Krach mit der Freundin

«Meine damalige Freundin hat mich besucht und wir hatten einen grösseren Krach. Ich sagte zu ihr: Setz dich erst mal hin, ich koche einen Kaffee. Ich hatte eine kleine Küche und als ich wiederkam, sah ich, dass sie diese Blätter in der Hand hielt. Und da sagte sie: Du bist zwar ein Riesenarschloch, aber schreiben kannst du.»

Keller hat ihm damals nicht nur bei seinem eigenen Beziehungsknatsch aus der Patsche geholfen. Für Thomas Hürlimann ist Keller ganz grundsätzlich ein Experte für Paarbeziehungen.

Im «Grünen Heinrich» beispielsweise kreise er um die beiden Frauenfiguren Anna und Judith – die eine ätherisch, die andere sinnlich – und untersuche schreibend zu welchem Frauentyp es ihn mehr hinziehe. Mit unklarem Ergebnis allerdings. Kellers grosse Stärke seien seine Figuren. Dabei müsse man bedenken, dass diese in einer Zeit ohne psychoanalytische Deutungsmuster entstanden sind.

Keller hat das Leben studiert

«Freud hat natürlich die Literatur auch stark beeinflusst und verändert. Wir kennen heute psychologische Typen, die eigentlich bestens in jedes psychiatrische oder psychologische Lehrbuch passen. Und einer wie Keller war von alldem noch nicht beeinflusst. Der hat wirklich das Leben studiert. Und er hat eben ein Leben geführt, das ihn in manches Abenteuer verwickelt hat – auch in das Abenteuer einer zehn Jahre langen Beamtenschaft. Er wusste, wovon er schrieb.»

Ein Autor mitten im Leben. Und trotzdem sei Gottfried Keller immer gleichzeitig Romantiker und Realist gewesen, sagt Thomas Hürlimann. Auf der einen Seite die Sehnsucht nach dem Vergangenen auf der anderen die realistische Feststellung, dass diese Zeit endgültig vorbei und er in der Moderne angekommen ist.

Ein Leben lang begleitet von Keller

Dass er nun ausgerechnet den Gottfried Keller Preis gewinnt, freut Thomas Hürlimann ganz besonders. Keller sei ein Autor, der ihn ein Leben lang begleitet habe. Er stehe quasi in seinem Lebensgestell.

«Ich glaube, ich habe bei keinem Autor so deutlich gemerkt, dass ein Buch mit einem wächst. Der ‹Grüne Heinrich›, den ich mit 24 gelesen habe, ist ein ganz anderer, als der, den ich jetzt lese.»

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