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Herzschmerz vs. Hochliteratur Schwache Frau liebt starken Mann: «New Adult» lässt uns nicht los

Einfach gestrickte Liebesromane aus dem Genre «New Adult» verkaufen sich hunderttausendfach. Die Literaturkritik tut sie als bunt gefärbten, anspruchslosen Schund ab. Zu Recht?

Zugegeben: Für Menschen, die sich sonst mit sogenannter Hochliteratur beschäftigen, wirken die Inhaltsangaben von «New Adult»-Romanen wohl abschreckend:

«Plötzlich steht Rosie vor Adam. Adam, in dessen Augen sie einen unfassbaren Schmerz erkennt – und dem sie niemals näherkommen darf», liest man auf der Klappe des Romans «Lonely Heart» der Erfolgsautorin Mona Kasten.

Wie diese Liebesgeschichte ausgeht, dürfte klar sein: Man kommt sich näher und es wird ganz bestimmt schlüpfrig.

Kalkulierte Vorhersehbarkeit

Bücher wie dieses schiessen seit einiger Zeit wie die Pilze aus dem Boden. Sie richten sich an ein junges, meist weibliches Lesepublikum zwischen 16 und 25 Jahren und bilden Beziehungsgeschichten in jeder erdenklichen Klischeekonstellation ab.

Dass von Anfang an klar ist, wie die Geschichten ausgehen werden, schadet dem Absatz aber nicht, sondern ist sogar gezieltes Verkaufsargument.

Der Piper Verlag etwa unterteilt seine «New Adult»-Bücher gleich selbst nach «Romance Tropes», also den gängigsten Romanzen-Mustern. Zur Romance Trope «Workplace Romance» heisst es beim Verlag: «Geschichten im Arbeitsumfeld (Ärzte, Anwälte, Feuerwehrleute). Sehr geläufig ist, dass ein heisser CEO auf eine Praktikantin trifft und die beiden sich zueinander hingezogen fühlen.»

Ein Filmplakat in Rosatönen zeigt einen Mann und eine Frau in romantischer Pose.
Legende: «New Adult» läuft auch im Streaming: Mona Kastens «Save Me» wurde zur Serie «Maxton Hall». Getty Images

Hier gilt: Was draufsteht, ist auch drin – und wird rege gekauft. Die Startauflage von Mona Kastens Romanen liegt bei 100'000 Exemplaren oder mehr, also zwischen dem 20- und 100-fachen dessen, was unabhängige Literaturverlage in der Schweiz als Erstauflage drucken.

«New Adult» hat enormes Potential

Es ist wenig erstaunlich, dass dem «New Adult»-Genre aus dem Feuilleton ein herber Wind entgegenweht. Man liest mehr oder weniger explizit formulierte Vorwürfe, solche Geschichten seien austauschbarer Schund: Sie idealisierten veraltete Klischees oder glorifizierten moralisch verwerfliche Konstellationen.

Für die Kulturwissenschaftlerin Christine Lötscher greifen solche Vorwürfe aber zu kurz. Wer mit dem Handwerkszeug der Hochliteratur an solche Texte gehe, habe die falschen Kriterien, sagt sie. Sie attestiert «New Adult» ein riesiges Potenzial, und zwar in mehrerlei Hinsicht.

Ein Mann in Hemd und Krawatte, mit hochwertiger Uhr. Zwei Frauen nähern sich ihm mit gespitzten Lippen.
Legende: Erwartbare Klischees wie «Schwache Frau liebt starken Mann» oder «CEO schnappt sich Praktikantin» finden sich gern in «New Adult»-Literatur. (Symbolbild) imago/stock&people

Man unterschätze die Leserinnen: «Ihre Reflexionsebene ist beachtlich hoch. Mit diesem Genre können sie sich einerseits der Faszination heterosexueller Liebesgeschichten hingeben und andererseits gleichzeitig, angeregt davon, wissenschaftliche Artikel über toxische Beziehungsstrukturen recherchieren, die sie dann wieder auf andere Geschichten oder auch auf ihr Leben anwenden.»

Eine neue weibliche Lesekultur?

Das gehe, im vollen Bewusstsein, dass solche Geschichten für feministische Leserinnen nicht die Lösung, sondern Teil des Problems seien, so Lötscher. Denn: «Es ist auch eine Form von Ermächtigung, etwas zu lesen, das immer stigmatisiert wurde.»

Christine Lötscher an den Solothurner Literaturtagen

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Christine Lötscher ist Kulturwissenschaftlerin und
Popkultur-Forscherin. Sie lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien an der Universität Zürich.

Live zu erleben ist sie bei den Solothurner Literaturtagen an einer Podiumsdiskussion über «New Adult»-Literatur: «Das Phänomen New Adult» am Freitag, 10.5.2024 um 14:30 Uhr im Gemeinderatssaal.

Im Genre «New Adult» sieht die Forscherin deswegen einen Aushandlungsraum für brennende, gesellschaftliche Fragen junger Frauen. Eine «globale digitale, weiblich konnotierte Lesekultur», die der althergebrachten, männlich geprägten je länger, desto stärker entgegensteht. Eine Aussicht, die Verfechtern der Hochliteratur jetzt auch noch Angstschweiss in die Zornesfalten treiben mag.

Das erste «New Adult»-Literaturfestival in der Schweiz

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Zwischen 31.5.2024 und 2.6.2024 findet in Lausanne das Festival «Booklovers» statt. Es ist das erste Festival für «New Adult»-Literatur in der Schweiz und im gesamten französischen Sprachraum.

Auf dem Programm stehen neben einem durchaus kuriosen Rahmenprogramm (wie einem Edelstein-Workshop) Lesungen, Podiumsveranstaltungen mit Autorinnen und Autoren, Signierstunden und Parties.

Das gesamte Festival ist gratis, für bestimmte Veranstaltungen braucht es eine Anmeldung auf der Website des Festivals.

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Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 10.5.2024, 8:10 Uhr.

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