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Literatur «In Büchern soll man Dinge suchen, die einen aus der Bahn kippen»

Das Buch ist ein Fetisch: Wir fassen es an, es riecht. Und es eröffnet uns verborgene Welten. Darum geht es in Thomas Hürlimanns Eröffnungsrede zur «BuchBasel». Ein Gespräch über Rilke, Platon und eine grosse Liebe, ausgelöst durch ein Schnapsglas.

In Ihrer Eröffnungsrede des Literaturfestivals «BuchBasel» sprechen Sie vom Buch als Fetisch. Wie sollen wir das verstehen?

Thomas Hürlimann: Ein Fetisch ist ein Ding, das uns fasziniert, uns bezaubert und auch verstört. Ich denke, so ist es auch beim Buch. Auf einem Bildschirm ist ein Text genau der gleiche wie im Buch, aber ich vermute, aus dem Buch wirkt er anders. Er atmet anders.

Was ist das Besondere am Fetisch Buch, im Gegensatz zu anderen Dingen? In Ihrer Rede sprechen Sie von etwas Erotischem, etwas Schlüpfrigem.

Ich fasse es mit den Händen an, ich blättere es auf. Es hat einen Spalt, einen Geruch. Ich habe letztens ein uraltes Buch gefunden, dem entstieg so ein mehliger Geruch. Ich war sofort in einer anderen Zeit. So wie es Schuh-Fetischisten gibt, gibt es auch Buch-Fetischisten, die Bücher sammeln.

Und was machen die Wörter mit uns, die uns aus einem Buch «entgegenpurzeln»?

Thomas Hürlimann

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Der Schweizer Schriftsteller wurde als Sohn des späteren Bundesrats Hans Hürlimann in Zug geboren. Er debütierte 1981 mit dem Geschichtenband «Die Tessinerin». Thomas Hürlimann erhielt zahlreiche Literaturpreise, darunter den Joseph-Breitbach-Preis.

Das ist ein Wort von Rilke. Er sagt, wenn eine hastige Hand ungeschickt ein Buch öffnet, dann purzeln lauter Dinge heraus. Rilke hat gesehen, dass die Dinge Phänomene sind; wie Heidegger sagt, dass die Dinge als Phänomene auf uns zukommen. Das heisst, es kommt etwas aus dem Dunkeln auf uns zu. Und wenn etwas aus dem Dunkeln kommt, muss es etwas Verborgenes geben. Ich versuche herauszufinden, was dieses Verborgene ist. Ein verborgenes Paradies, das uns begegnen kann, zum Phänomen werden, wenn wir ein Buch öffnen.

Was ist für Sie ein Ding, das aus dem Dunkeln heraustritt?

Das kann zum Beispiel ein Kleid sein, so wie es Rilke beschreibt. Er legt es in eine Kommode. Das Tolle ist, wenn man das liest, dann verwandelt sich dieses Kleid von einem Taufkleid zu einem Hochzeitskleid in ein Totenhemd. Das geschieht bei Rilke in einem Satz, dieses Ding macht eine riesige Verwandlung durch. Wenn man diesen Satz liest, dann ist das auch etwas, das mich verwandelt. Weil dieses Ding weit über sich hinausweist, in einen anderen Zusammenhang – wenn Sie wollen, in den Zusammenhang von Liebe und Tod.

Dieses Ding macht etwas mit uns, es trägt uns weiter?

Oder es verstört uns, es lässt uns stolpern. Es muss ja nicht immer zum Guten gereichen. Man darf im Buch nicht immer nur die Bestätigung seiner eigenen Gedanken, seines eigenen Denkens suchen. Man soll darin auch Dinge suchen, die einen erst mal aus der Bahn kicken.

In Ihrer Rede erzählen Sie in diesem Zusammenhang eine Anekdote mit einem Schnapsglas.

In einer Gastwirtschaft in Leipzig sass ich einer Frau gegenüber und wusste plötzlich: Die ist es. Ich bestellte einen Schnaps, weil das auch ein Erschrecken war, nahm einen Schluck und dachte dann: Nein, ich will jetzt nicht betrunken werden. Ich stellte das Schnapsglas beiseite.

Buchhinweise

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  • Thomas Hürlimann: «Vierzig Rosen», Fischer, 2008.
  • Thomas Hürlimann: «Fräulein Stark», Fischer, 2003.

Das Seltsame war, in diesem Moment packte es auch diese Frau, sie heisst Katja. Und zwar, weil ich eine Geste ihres ersten Liebhabers nachgeahmt habe, der war damals schon tot. Auch er hatte in diesem Moment gedacht, dass er in dieser Situation nicht betrunken werden will. So ist es auch mir passiert.

Mit diesem Ding, dem Schnapsglas, habe ich Raum und Zeit überwunden. Ich habe die Erinnerung an den ersten Liebhaber wachgerufen und dadurch die Liebe dieser Frau gewonnen. Das heisst, aus diesem Schnapsglas schäumte plötzlich etwas anderes aus diesem Zusammenhang von Liebe und Tod.

Könnte man sagen, wenn man ein 50 Jahre altes Buch liest, dass man sich dann auch mit dem Leser verbindet, der es vor 50 Jahren gelesen hat?

So ist es. Als ich 17 war, da habe ich mich in Julika aus «Stiller» von Max Frisch verliebt, so wie man sich in einen lebenden Menschen verliebt. Und mit 28 habe ich mich in Judith verliebt, von Gottfried Keller in «Der grüne Heinrich». Das sind wunderbare Erlebnisse. Man lernt bis zu einem gewissen Grad, was das ist, die Liebe. Das hat mir sehr geholfen, auch mit dieser Katja.

Sie sprechen davon, dass uns eine andere Welt hinüberzieht. Was ist das für eine Welt? Erinnern wir uns dunkel an sie, vorgeburtlich?

Das ist reiner Platonismus. Er sagt, alles, was wir erinnern oder wissen, ist eigentlich ein Wieder-Erinnern. Er stellt die Frage: Warum haben wir abstrakte Begriffe wie Gott, Freiheit und Sterblichkeit? Wir können sie nicht den Dingen entnehmen, wir müssen sie von irgendwo anders haben, aus vorgeburtlichen Räumen – genauso wie die Anima. Es gibt soundso viele Frauen, warum verliebe ich mich genau in diese? Ich finde sie wieder, eine Anima, die ich in mir habe, mit der ich auf die Welt gekommen bin. Platon sagt, wenn wir ins Leben stürzen, in die Geburt, dann vergessen wir, was wir geschaut haben, nehmen es nur in Bruchteilen mit. Und versuchen dann, diese Dinge wiederzufinden.

Das heisst, wir laufen eigentlich durch die Welt mit einem Rucksack voller Heimweh. Und wenn wir Bücher lesen, dann wird dieses Heimweh ein bisschen gestillt?

So ist es. Wir haben eine Welt verlassen. Wir kommen ins Leben und dann machen wir, wie die Figuren in Caldérons Welttheater einen Gang von der Wiege bis zur Bahre. Wir haben ein Heimweh in uns, das uns auch wieder heimgehen lässt. Das ist ein grosses Wort von Novalis. Wir gehen immerzu und überall nach Hause.

Denken Sie beim Schreiben daran?

Schreiben ist ein Basteln am Satz. Der Satz soll nicht in mir entstehen, sondern in Ihnen, der Leserin. Das ist eine harte Arbeit, das heisst eine Seite zehnmal schreiben. Und wie Thomas Mann gesagt hat: 10 Prozent sind Inspiration, 90 Prozent Transpiration.

Wann wissen Sie: Jetzt ist es gut, jetzt löst es beim Leser etwas aus?

Das ist schwierig. Der Maler kann zurücktreten, sein Bild anschauen. Bei einem Buch gibt es, glaube ich, einen Moment, wo man sich sagen muss: Jetzt muss ich aufhören. Wenn ich so weitermache, dann bin ich in 100 Jahren noch an dieser Seite.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 07.11.2014, 08.10 Uhr

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